Zehn Jahre Gezi-Park-Demos Der letzte heftige Protest gegen Erdogan
Die Türkei steht im Zeichen der Stichwahl am Sonntag - doch viele Türken denken gerade auch an die Vergangenheit: Vor zehn Jahren gab es in Istanbul die Gezi-Proteste. Die Folgen sind für manche Akteure noch spürbar.
Vor genau zehn Jahren begannen die Gezi-Park-Proteste auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul, der letzte heftige Protest gegen die Regierung Recep Tayyip Erdogans. Die Bilder gingen damals um die Welt.
Jahre später verurteilte ein Gericht angebliche Drahtzieher zu langen bis lebenslangen Haftstrafen. Darunter ist auch die Istanbuler Filmproduzentin Cigdem Mater. Würde Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu die Präsidentschaftswahl am Sonntag gewinnen, hätten sie und die anderen gute Chancen freizukommen. Ihr Mann schaut auf den Jahrestag und die Stichwahl mit gemischten Gefühlen.
Gasmaske und Helm gehören 2013 auf dem Taksim-Platz mitten in Istanbul zur Grundausstattung. Murat Utku arbeitet damals für einen internationalen Fernsehsender und ist ab der ersten Minute dabei. Der 51-Jährige erinnert sich an Unmengen von Tränengas, das die Istanbuler Polizei einsetzte:
Hier war jeder verfügbare Polizeibeamte. Und alles war voller Nebel, aber das war eben kein normaler Nebel, sondern Nebel durch Tränengas, das man gegen die Menschen dieses Landes eingesetzt hat. Und das alles hatte ein immenses Ausmaß."
Mit Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen Demonstranten
Kurz vor dem zehnten Jahrestag steht er wieder auf diesem symbolträchtigen Platz. Die Bilder von damals hat er noch im Kopf. Die Polizei warnte: "Ihr werdet mit Gewalt auseinandergetrieben. Und wenn ihr nicht auseinandergeht, werdet ihr ab jetzt mit immer mehr Gewalt auseinandergetrieben."
Die Polizei machte ihre Warnung wahr. Sie ging mit Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor. Utku beobachtete alles.
Heute schlendern Touristen an ihm vorbei und machen Selfies, Kinder hüpfen hinter Tauben her, Geschäftsleute kaufen sich auf dem Weg zur Arbeit am Simit-Wagen noch einen Sesamkringel.
Der Journalist steuert zum Gezi-Park, der ein paar Stufen oberhalb des Platzes liegt und zeigt auf einen Gitterzaun, hinter dem Einsatzfahrzeuge parat stehen: "Hier links gibt's immer noch einen abgesperrten Polizeibereich. Die Polizei ist immer noch da. Wenn man dann hier raufgeht, kommt man in den Gezi-Park, in dem es immer noch Bäume gibt. Das ist gut."
So friedlich war es nur selten: Demonstranten versammelten sich am 2. Juni 2013 im Gezi-Park.
Die Bäume im Park stehen noch
Insofern sind die Gezi-Park-Proteste auch heute noch ein Erfolg. Der Park muss nicht wie geplant einem Einkaufszentrum weichen. Darum geht es bei den Protesten vor zehn Jahren ursprünglich. Menschen campen dort, um einen der wenigen grünen Orte in der Millionenmetropole zu retten: "Viele Leute haben hier Lieder gesungen oder Yoga gemacht", erinnert sich Utku.
Und dann habe es noch die Hauptbühne gegeben und Konzerte. "Manchen haben Ansprachen gehalten, an die Leute und die Presse. Das war wirklich auch für mich wichtig." Eine Bühne der Demokratie, meint der Journalist. Nur so friedlich sei es selten gewesen im Frühsommer 2013 im Istanbuler Gezi-Park:
Die Polizei kam und hat die Zelte angezündet mitsamt den persönlichen Sachen der Leute drin.
Ein Mann entfernt am Taksim-Platz ein Banner mit dem Konterfei von des Oppositionskandidaten Kilicdaroglu.
In Haft wegen eines Films, den es nie gab
Der 51-jährige setzt sich auf eine Parkbank und dreht sich eine Zigarette. Er ist mit Gezi, wie sie hier alle nur kurz zu dieser so emotionalen Zeit sagen, nicht nur als Beobachter verbunden. Seine Frau Cidem Mater sitzt deshalb im Gefängnis. Dabei war sie 2013 gar nicht als Aktivistin dabei.
Die bekannte Filmproduzentin plante nach dem Ende der Proteste eine Dokumentation. Utku erzählt von einer bizarren Gerichtsverhandlung: "Der Staatsanwalt hat sie gefragt, sie wollten einen Film machen, wo ist der? Aber es gibt bis heute keinen Film. Also sie ist wegen eines Films im Gefängnis, den sie nie gemacht hat."
Vor gut einem Jahr verurteilt sie ein Istanbuler Gericht im bekannten Gezi-Prozess zu 18 Jahren.
Hoffnung, dass Kilicdaroglu gewinnt
Über dem Taksim-Platz drüben wehen große Wahlkampffahnen mit dem Gesicht von Kemal Kilicdaroglu, dem Herausforderer von Präsident Erdogan. Gewönne er, sähen viele gute Chancen, dass politische Gefangene freikommen, auch die aus dem Gezi-Park-Prozess: "Wir wollen, dass dieses Land zu einem Ort wird, an dem Leute einfach sagen können, was sie wollen, an dem sie Filme machen können über Themen, die sie sich aussuchen. Und ich hab immer noch Hoffnung - und Cigdem auch."
Ob seine Frau den Film über Gezi dann noch drehen würde? Utku überlegt, er habe nie mit ihr darüber gesprochen. Es sei einfach zu viel in den letzten zehn Jahren hier passiert.