In einem Pub wir das TV-Duell zwischen Sunak und Starmer übertragen. Zwei Frauen sitzen an einem Tisch und unterhalten sich.
analyse

Wahl in Großbritannien Das schwierige Erbe der Tories

Stand: 26.06.2024 08:57 Uhr

Heute Abend steigt die letzte große TV-Debatte vor der Wahl in Großbritannien. Umfragen sehen die Labour-Partei weit vor den Tories. Aber es dürfte keine einfache Rückkehr an die Macht werden.

Das Interessanteste an den bevorstehenden britischen Wahlen ist nicht der so gut wie sichere Sieg der Labour-Partei und die damit sehr wahrscheinliche Rückkehr der Briten in eine post-populistische Zeit, sondern der bevorstehende, fast vollständige Zusammenbruch der Tories, der einstmals mächtigsten und erfolgreichsten konservativen Partei in Europa, die über Jahrzehnte das politische Geschehen auf der Insel dominiert hat.

Je nach Umfrage könnte sie am 4. Juli mit nur 70 bis 90 von 650 Sitzen ins Unterhaus ziehen, damit noch nicht einmal mehr die stärkste Oppositionspartei sein. Tory-Abgeordnete selbst sprechen von Untergang und "Vernichtung", eine Rekordzahl von knapp 80 Abgeordneten hat in den vergangenen Monaten bereits das Handtuch geworfen und erklärt, nicht mehr antreten zu wollen, darunter so prominente Figuren wie Michael Gove.

Die Partei, die vor nur fünf Jahren mit Johnsons Versprechen "Get Brexit Done" triumphierend im Alleingang das Parlament übernahm, steht vor der dramatischsten Niederlage in ihrer 200-jährigen Geschichte.

Über den Brexit spricht selbst Sunak nicht gern

Wie konnte das passieren? Die einfache Antwort wäre der Brexit, das zentrale Projekt der Tories seit 2015, der mittlerweile so unpopulär ist, dass selbst der britische Premier am liebsten gar nicht mehr darüber spricht.

Aber den bevorstehenden Zerfall der Tories allein den Folgen des Referendums zuzuschreiben greift zu kurz. Denn der Brexit war spätestens seit Boris Johnson weit mehr als nur der Austritt aus der EU, sondern der erste große Ausbruch des Rechtspopulismus in einer westlichen Demokratie.

Die Tories begannen 2016 als erste traditionelle Mitte-rechts-Partei, sich den extrem rechten Parteien - erst UKIP, später der Brexit-Partei - an den Hals zu werfen, um der gefühlten Bedrohung von ganz rechts etwas entgegenzusetzen und radikalisierten sich dann immer rasanter.

Ihren knappen Sieg beim Referendum interpretierten sie nicht als Auftrag, die gespaltene britische Gesellschaft mit einem weichen Brexit wieder zusammenzuführen, sondern im Gegenteil: Der "Wille des Volkes" wurde bald zum Freifahrtschein, um jeden Kritiker der geplanten Brexit-Revolution aggressiv als Landesverräter zu denunzieren.

Damit machte sich ausgerechnet eine klassisch konservative Partei die autoritären Parolen antidemokratischer Figuren wie Nigel Farage am ultrarechten Rand der britischen Gesellschaft zu eigen.

Comeback von Farage mit Reform-Partei

Das Kalkül, damit rechte Hetzer wie eben jenen Farage zu neutralisieren, ging nicht auf. Im Gegenteil. Vor wenigen Wochen meldete der sich zurück auf der politischen Bühne, als Kandidat der von ihm neu gegründeten Reform-Partei. Als sei nichts geschehen, erklärt Farage seitdem, die Tories hätte den Brexit nicht radikal genug durchgezogen, und treibt den amtierenden Premier Rishi Sunak und die Tories erneut vor sich her.

Womit Sunak neben seiner eigenen Unpopularität jetzt auch noch das letzte Segment der Wähler, das er aktiv beworben hatte, zu verlieren droht: den ganz rechten Rand. Ein sehr britischer Groundhog Day.

Und Labour? Keir Starmer muss sich das Elend einer in den Abgrund starrenden Tory-Partei eigentlich nur genüsslich aus der Ferne ansehen, ihm spielt das zunächst in die Karten. Aktuellen Umfragen zufolge hat er einen historischen Sieg am 4. Juli so gut wie in der Tasche. Und dennoch: Wenn in einer Demokratie die konservative Mitte implodiert, dann hat das immer auch Folgen für das gesellschaftliche Gesamtgefüge.

Und so sollte Starmer eine sich in der Opposition absehbar weiter radikalisierende Tory-Partei mehr fürchten als den alten starken Gegner aus der Mitte der Parteienlandschaft. Wenn jetzt nicht wenige der noch verbleibenden Tories in ihrer Not ausgerechnet nach Farage als neuem Toryführer rufen, dann ist das ein fatales Signal, das ankündigt, dass die Tories nach einer Wahlniederlage wohl kaum ernüchtert zur Besinnung kommen werden.

Leere Staatskassen

Ein Labour-Sieg wird damit nur auf den ersten Blick als leichte Rückkehr in die alte Welt der liberalen Demokratie erscheinen. Wie die USA oder Polen gerade mehr als deutlich vor Augen führen, gibt es für ein einmal vom Populismus vergiftetes Land keinen einfachen Weg zurück zum Status quo ante.

Labour-Chef Starmer bei einer Wahlkampfveranstaltung im Hafen von Southampton

Labour-Chef Starmer wirbt bei einer Wahlkampfveranstaltung im Hafen von Southampton um Stimmen.

Hinzu kommt: Auf Starmer warten nach seinem Wahlsieg schier unlösbare Aufgaben. Er muss ein Land reparieren, dessen Gesundheitssystem und öffentliche Dienste knapp vor dem Zusammenbruch stehen, während gleichzeitig die Staatskassen aufgrund der jahrelangen Misswirtschaft der Tories so gut wie leer sind.

Das ist ein Job, der mindestens zwei Legislaturperioden ruhigen Arbeitens bedarf. Eine um Labour herum implodierende rechte politische Mitte aber dürfte genau das von Anfang an torpedieren. Und so verwundert es wenig, dass Starmer bei seinen öffentlichen Auftritten bisher oft angestrengt und leicht verspannt wirkte: Der nächste Premierminister der Briten weiß genau, was auf ihn zukommt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 26. Juni 2024 um 09:52 Uhr.