Ukrainischer Außenminister Kuleba "NATO-Mitgliedschaft kann künftige Kriege vermeiden"
Der ukrainische Außenminister Kuleba hat in den tagesthemen erneut auf eine NATO-Einladung gedrängt. Die Gefahr, dass die Mitgliedsstaaten in einen Krieg gezogen würden, sehe er nicht. Es gehe nicht um einen sofortigen Beitritt.
tagesthemen: Herr Außenminister, wir stehen unmittelbar vor einem womöglich wegweisenden Gipfel der NATO - jenes Clubs, der Ihr Land noch nicht reinlassen will. Wird Präsident Selenskyj morgen nur zu dem Gipfel fahren, wenn die Ukraine eine formelle Einladung in die NATO erhält?
Dmytro Kuleba: Nun, der Ukraine wurde schon vor einigen Jahren, im Jahr 2008, ein Betritt versprochen. Es wurde seitdem aber nur sehr wenig von der NATO unternommen, um diese Mitgliedschaft Realität werden zu lassen. Und wir glauben, dass jetzt die beste Zeit für eine solche Entscheidung ist, uns die Einladung auszusprechen - mit dem Verständnis, dass dieser Beitritt erst dann geschehen kann, sobald die Voraussetzungen stimmen. Wir reden also nicht über eine sofortige Mitgliedschaft, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir haben jetzt noch 48 Stunden und die Verhandlungen mit unseren Partnern zu diesem Thema laufen. Der ukrainische Präsident wird hierzu eine finale Entscheidung fällen, auf Grundlage der Ergebnisse der Verhandlungen der nächsten Stunden.
tagesthemen: Aus Berlin hieß es zumindest am Montagmorgen, für eine offizielle Einladung der Ukraine in die NATO sei es noch viel zu früh. Deutschland hat Sorge, genauso wie beispielsweise die USA, in einen Krieg hineingezogen zu werden.
Dmytro Kuleba: Nein. Wir schätzen alles, was Deutschland und die USA für die Ukraine tun, um uns in diesem Krieg zu unterstützen. Bei diesem Punkt haben wir aber doch eine andere Meinung als Berlin, denn wir glauben, dass die Einladung an sich niemanden in irgendeinen Krieg ziehen wird. Aus politischer und rechtlicher Sicht ist eine Einladung eine politische Botschaft an die Ukraine, dem Bündnis beitreten zu dürfen und zeigt, dass der Prozess im Gange ist. Der Bündnisfall gemäß Artikel 5 greift erst dann, wenn die Ukraine ein Mitgliedsland ist. Dessen sind wir uns bewusst. Und daher gibt es einen Beitritt erst dann, wenn jeder dazu bereit ist. Das sind zwei verschiedene Dinge.
Ich rufe die deutsche Regierung dazu auf, die Fehler von Bundeskanzlerin Merkel aus dem Jahr 2008 nicht zu wiederholen, die sich ganz klar gegen die Integration der Ukraine in die NATO ausgesprochen hat. Die Folge davon war ein noch aggressiveres Verhalten von Russland - siehe Georgien, Feindlichkeiten gegenüber dem Westen und die jetzige Aggression gegenüber der Ukraine. All dies geht zurück auf den NATO-Gipfel 2008 in Bukarest, als die Länder nicht mutig genug waren für diese historische Entscheidung, um sicherzustellen, dass die europäisch-atlantische Zone Sicherheit genießt.
tagesthemen: Aber weil Russland so unberechenbar ist, bleiben einige Mitgliedsstaaten wie Deutschland und die USA sehr skeptisch, was die baldige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO insgesamt betrifft. Was erwarten Sie jetzt konkret vom deutschen Bundeskanzler?
Dmytro Kuleba: Die ukrainische NATO-Mitgliedschaft ist ein Weg hin zu Frieden. Sobald die Ukraine der NATO beitreten kann, gibt es keine Kriege mehr in Europa. Um das geht es doch. Denn Russland wird sich nicht mehr trauen, das Bündnis anzugreifen. Es stimmt, eine NATO-Mitgliedschaft kann diesen Krieg nicht stoppen, aber sie kann zukünftige Kriege in Europa vermeiden. Und europäische Politiker haben überhaupt nichts zu verlieren, wenn sie diese Einladung aussprechen und die Ukraine der NATO beitreten kann.
Putin ist momentan gar nicht in der Lage, auf irgendeine bedeutsame Weise auf eine solche Einladung zu reagieren. Er muss sich um seine internen Probleme kümmern. Deswegen sage ich: Wenn wir der Angst erlauben, unsere Entscheidungen zu prägen, dann ist das eine Strategie, die nicht aufgeht. Wir schätzen wirklich, was Deutschland tut, um uns im Interesse von ganz Europa zu helfen. Aber wir müssen ehrgeizig sein. Wir müssen uns an die zurückliegenden Fehler des Bukarest-Gipfels 2008 erinnern und diese in Zukunft vermeiden.
tagesthemen: Herr Kuleba, US-Präsident Biden schlägt vor, der Ukraine nach dem Krieg jene Sicherheitsgarantien zu gewähren, die auch Israel erhält - also die Zusage regelmäßiger Waffenlieferungen und der Schutz vor Angriffen. Warum ist Ihnen das zu wenig?
Dmytro Kuleba: Warum will jeder immer die Ukraine in einen separaten Topf stecken? Vergangenes Jahr haben wir gehört, dass wir keine EU-Mitgliedschaft brauchen, nein, was wir brauchen, ist ein spezieller Status. Letzten Endes wurde der Ukraine trotz aller Diskussionen ein Kandidatenstatus verliehen. Jeder freut sich darüber und sagt, dass die Ukraine ein EU-Mitgliedsstaat werden wird. Und jetzt erleben wir die gleiche Geschichte mit der NATO. Warum schauen die Menschen immer nach Alternativlösungen? Warum können wir nicht einfach einen ganzheitlichen Lösungsansatz für eine europäische Sicherheitsarchitektur entwickeln, in der die Ukraine im Boot der NATO sitzt? Die Ukraine ist keine Last. Die Ukraine ist ein Gewinn. Denn ohne unsere Armee könnte die Ostflanke gar nicht verteidigt werden.
Da könnten wir die vergangenen Fehler Deutschlands und anderer westeuropäischer Staaten nicht korrigieren, und jetzt verteidigen wir die Ostflanke. Deswegen müssen wir das Ganze rational betrachten und nicht im Geiste der Angst, alter Strategien und Konzepte. Wenn wir uns über Sicherheitsgarantien unterhalten, dann gilt folgendes: Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz - und das schätzen wir sehr - haben beide gesagt, dass die Ukraine Sicherheitsgarantien verdient, um sich gegen russische Aggressionen zu verteidigen - in dem Verständnis, dass diese Sicherheitsgarantien greifen bis zu dem Moment, an dem die Ukraine der NATO beitritt. Daher dürfen diese Sicherheitsgarantien nicht als Alternative für eine NATO-Mitgliedschaft angesehen werden, sondern als etwas, das dieses Vakuum zwischen jetzt und dem Moment, in dem die Ukraine ein Mitglied wird, füllt. Das ist ein sehr wichtiges Detail, das wir nicht vergessen dürfen.
Das Interview führte Caren Miosga.
Für die schriftliche Fassung wurde das Interview redaktionell bearbeitet und gekürzt.