Häuser sind in der Westukraine auf dem Land zu sehen.
reportage

Mobilisierung in der Westukraine Dörfer ohne Männer

Stand: 21.02.2024 12:32 Uhr

Die Soldaten sind erschöpft, die Ukraine muss mehr Rekruten einziehen. Viele Menschen vermuten, dass das bisher vor allem auf dem Land geschieht - in den Dörfern gibt es kaum eine Familie ohne Angehörigen an der Front.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Ein Mann zeigt mit dem Finger auf die umliegenden Häuser: "Der Nachbar dort - sein Sohn hat gekämpft. Jetzt ist er fast behindert. Er ist erst 30! Die Venen an seinen Beinen sind dick wie meine Finger." Er deutet weiter: "Dieser Nachbar da ging zu Kriegsbeginn, jetzt ist er die ganze Zeit im Krankenhaus. Dort der Nachbar ist aus dem Krieg zurück. Hier der Nachbar - mit ihm habe ich früher im Donbass gekämpft. Er ist wieder in den Krieg gegangen. Jetzt ist er völlig taub und braucht ein Hörgerät. Das musste er selbst kaufen."

Der Mann will seinen Namen nicht nennen. Weil er Russisch spricht und man ihn in dem westukrainischen Dorf sofort identifizieren könnte, sagt er. Er stützt sich auf den Zaun zu seinem Hof. Gänse laufen durch den Schlamm. Es weht ein kalter Wind.

"Es heißt, wir haben fast 120.000 ausgebildete Kämpfer", sagt er weiter. "Die ganzen Polizisten, die hier rumhängen. Warum werden die nicht eingezogen? Ich bin hier - und Rentner. Ich gehe freiwillig auf Streife und sorge für Ordnung. Das Problem wäre gelöst!"

Streit über neues Mobilisierungsgesetz

Seit Monaten streitet die Ukraine über ein neues Mobilisierungsgesetz. Es fehlen Soldaten für die Front. Dort sind die Einheiten teilweise dezimiert und oft völlig erschöpft nach zwei Jahren Einsatz. Während in den großen Städten teilweise ein nahezu normales Leben möglich scheint, zeigt sich in ländlichen Regionen ein ganz anderes Bild.

"Drei meiner Söhne sind schon an der Front", erzählt eine Frau. "Seit zwei Jahren, einer sogar seit 2014. Ich habe insgesamt sieben Söhne, drei an der Front und zwei haben den Einberufungsbescheid bekommen. Einer ist gestern zur Musterung gegangen." Auch die Frau will ihren Namen nicht nennen. Zu groß ist das Misstrauen gegenüber Medien. Und zu groß die Scham, nicht patriotisch genug zu sein. So wirkt es. Aber was sie berichtet, ist kein Einzelfall.

"Die drei Söhne einer Freundin sind auch im Krieg", sagt eine andere Frau. "Einer ist jetzt sehr schwer verwundet im Krankenhaus. So ist es nun mal - alle drei waren im Krieg."

"Es gab keine Männer mehr"

Unabhängig belegen lässt es sich nicht, denn die Behörden veröffentlichen keine Zahlen über Verwundete, Getötete oder Eingezogene. Aber viele Menschen in der Ukraine sind sich sicher: Vor allem auf dem Land werden die Männer an die Front geschickt.

Das bemerkt auch der Liewer Anwalt Jewhen Fylypets. "Ich kann nicht sagen, womit das zusammenhängt", sagt er. "Tatsache ist: Auf den Dörfern werden die Menschen eingezogen. Einige haben mir erzählt, dass es dort am Ende des Sommers niemanden mehr für die Kartoffelernte gab. Es gab keine Männer mehr."

Menschen werden auf der Straße aufgegriffen

Die ukrainische Führung hat auch nach zwei Jahren russischer Großinvasion keine Lösung gefunden, die Einberufung gerecht zu gestalten. Die Erfahrung von NGOs und Wehrpflichtigen zeigt: Wer Geld, Kontakte und Einfluss hat, kann der Einberufung eher entkommen.

In der Ukraine sind viele Menschen nicht gemeldet. Niemand weiß, wo sie de facto wohnen, und die Behörden haben oft keine Ahnung, wo Wehrfähige sind. Daher würden Menschen bei der Arbeit oder auf der Straße aufgegriffen, erklärt Anwalt Fylypets.

Die Vorladungen sind vorgefertigt ohne Namen. Die Beamte schwärmen aus, treffen jemanden und händigen den Einberufungsbescheid aus. Sie tragen ein, dass man in 15-20 Minuten auf dem Amt sein soll. Ist das legal? Natürlich nicht.

Eine undankbare Aufgabe

Auf den Dörfern aber kennt man sich - und hier sind es die Dorfvorsteher, die die Einberufungsbescheide ausgeben müssen. So etwa Natalia Strilets: Sie ist so etwas wie die Bürgermeisterin eines kleinen Dorfes in der Westukraine - und arbeitet in einem kalten, nahezu verlassenen Gebäude. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich die Akten.

"Das ist eine unangenehme Aufgabe", sagt sie. "Sie können es sich ja denken: Heute gebe ich einen Einberufungsbescheid aus und in einer Woche kommt er im Sarg zurück. Solche Fälle hat es schon gegeben. Ich habe Angst, auf die Beerdigung zu gehen. Die Eltern könnten mir die Schuld geben."

Viele Männer verstecken sich

Ginge es nach Natalia Strilez, dann würden Polizei oder Armee diese Aufgabe übernehmen. Aber man höre ihr nicht zu, sagt sie. Auch nicht mehr in dem Dorf, das sie verwalten soll. Strilez ist von der gewählten Vertreterin für viele zu einer unerwünschten Person geworden.

"Sobald sie sehen, dass ich auf den Hof gehe, schließen sie das Haus ab. Ich kann den Einberufungsbescheid also niemandem geben. Es gibt sogar Leute, die schon die Tore mit einem Block verriegeln, sodass ich nicht einmal auf den Hof komme."

Viele Männer versteckten sich, berichtet Strilez. Und viele sind aus der Ukraine geflohen. Mehr als 600.000 Ukrainer in wehrfähigem Alter sollen sich nach offiziellen Angaben in der EU aufhalten. Die Ukraine hat noch ausreichend Mobilisierungspotential, sagen Experten. Die ukrainische Führung müsse nur bereit sein, unangenehme Entscheidungen zu treffen.

Rebecca Barth, ARD Kiew, tagesschau, 21.02.2024 07:59 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 21. Februar 2024 um 09:26 Uhr.