NATO-Mitgliedsanträge Was Schweden und Finnland mitbringen
Mit "offenen Armen" will die NATO Schweden und Finnland willkommen heißen. Als Mitgliedsstaaten verändern sie das Verteidigungsbündnis - und bringen selbst beachtliche Kräfte ein.
Finnland und Schweden haben ihre Beitrittsanträge bei der NATO eingereicht. Sie hoffen auf eine Aufnahme im Eiltempo, denn angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine bewerten die beiden bislang bündnisfreien Staaten ihre Sicherheitslage viel dramatischer als vor dem Februar 2022.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg twitterte, er sei von den Anträgen "geehrt" - und auch Experten beurteilen eine Aufnahme Schwedens und Finnlands als vorteilhaft für beide Seiten. "Sie kommen nicht als Bittsteller in die NATO, sondern als 'Sicherheits-Provider': Beide Länder haben etwas beizusteuern und machen die NATO stärker", sagt Claudia Major, Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Anders als in Deutschland gilt in Finnland seit Jahrzehnten durchgängig die Wehrpflicht für männliche Staatsbürger, Frauen können freiwillig dienen. Schweden hat die Wehrpflicht 2018 für Männer und Frauen wieder in Kraft gesetzt - schon damals aufgrund der veränderten Sicherheitslage mit Blick auf Russland.
Gerüstet für den Verteidigungsfall
Neben Zehntausenden Wehrdienstleistenden pro Jahr können beide Staaten auf eine beträchtliche Truppenstärke zurückgreifen: Schwedens Streitkräfte setzen sich zusammen aus dem Heer, der Luftwaffe und der Marine - insgesamt knapp 15.000 Soldatinnen und Soldaten. Hinzu kommen Kräfte der sogenannten "Heimwehr" (Hemvärnet), die 20.700 weitere Soldaten und 5000 Dienende auf Zeit umfasst. Zusammen mit Reservisten kommt das Land auf etwa 50.000 Soldatinnen und Soldaten. Finnland verfügt über 23.500 aktive Streitkräfte, die im Kriegsfall kurzfristig auf bis zu 280.000 hochgefahren werden können, sowie 900.000 Reservisten. Neben Heer, Luftwaffe und Marine ist im Krisenfall auch der Grenzschutz einsatzbereit, der dann von 3800 Kräften auf mehr als das Dreifache verstärkt werden kann.
Eine finnische Besonderheit ist das Konzept der totalen Verteidigung: Alle Teile der Regierung und Wirtschaft haben einen Krisenplan und sind dafür verantwortlich, die eigenen Aufgaben auch im Ernstfall erfüllen zu können - ein System, das dem Land zuletzt während der Corona-Pandemie gute Dienste geleistet hat.
Erfahrene Kooperationspartner
Für die NATO handle es sich bei Schweden und Finnland um "Wunschpartner", sagt Sicherheitsexpertin Major - mit denen man als sogenannte enhanced opportunity partners schon lange "so eng wie möglich unterhalb der Schwelle einer Mitgliedschaft" kooperiert.
Beide Staaten gehören etwa zur Nordic Battlegroup, einer von 18 EU-Battlegroups, die für Erstmissionen in Krisengebiete gedacht sind. Im nordischen Verteidigungsbündnis Nordefco arbeiten sie gemeinsam mit den NATO-Staaten Dänemark, Island und Norwegen zusammen, in der "Partnerschaft für den Frieden" zwischen NATO- und Nicht-NATO-Staaten engagieren sie sich seit 1994 und entsandten Kräfte zu Einsätzen nach Afghanistan, in den Irak und auf den Balkan.
2018 übten Schweden und Finnland mit beim NATO-Großmanöver "Trident Juncture" in Norwegen, an dem auch die Bundeswehr teilnahm. 2019 exerzierten sie im Rahmen der Übung "Northern Wind" gemeinsam im Nordosten Schwedens mit Norwegen, den USA und Großbritannien. Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine haben NATO, Finnland und Schweden zudem den Informationsaustausch intensiviert und nehmen gegenseitig an Besprechungen teil.
Praktisch interoperable Militärs
"Finnische und schwedische Truppen haben bereits in der Vergangenheit so häufig zusammen mit der NATO geübt, dass sie praktisch interoperabel sind", sagte Stoltenberg dazu - und auch das Zwei-Prozent-Budgetziel erreicht Finnland bereits, Schweden will bis 2028 nachziehen.
Die übrigen Aufnahmekriterien würden beide Staaten erfüllen: Sie sind funktionierende Demokratien mit guten Beziehungen zu den Nachbarstaaten und nicht in aktive Territorialkonflikte verwickelt. Auch die Waffenarsenale beider Staaten sind mit NATO-Standards kompatibel.
Beispielsweise verfügt Schweden mit den Saab 39 Gripen über moderne Mehrzweck-Kampfflugzeuge, die für Jagd, Angriff und Aufklärung einsetzbar sind, Finnland kaufte jüngst aus den USA Tarnkappen-Jets des Typs F-35 und ist mit Hunderten Haubitzen und Raketensystemen stolz auf eine der stärksten Artillerie-Kapazitäten Europas. Schweden stockte seine Artillerie jüngst mit Mörsern im Wert von 47 Millionen Euro auf, will Radpanzer anschaffen und neue U-Boote hinzukaufen.
"Enorme Vereinfachung" im Ostseeraum
Mit einem Beitritt Schwedens und Finnlands würden sich die Kräfteverhältnisse innerhalb Europas neu formieren: Mit der russisch-finnischen Grenze wüchse die von Russland mit NATO-Mitgliedern geteilte Grenzlänge auf mehr als 2000 Kilometer an, mit der schwedischen Insel Gotland käme in der Ostsee ein wichtiger strategischer Stützpunkt hinzu. "Die Ostsee würde zu einer Art NATO-Binnenmeer, könnte man fast sagen", spitzt Major es zu.
Schon jetzt spielten beide Staaten im Ostseeraum eine wichtige Rolle für die NATO: "Wenn die NATO das Baltikum verteidigen möchte, braucht sie de facto den finnischen und den schwedischen Luftraum. Deshalb ist es aus Sicht der NATO auch eine enorme Vereinfachung, wenn sie diese beiden Länder jetzt in ihre Verteidigungsplanung integrieren könnten."
Neben der verbesserten Bewegungsfähigkeit in der Region steuern Schweden und Finnland auch ihre regionale Expertise an die NATO bei, etwa bei Cyberangriffen und strategischen Fragen im arktischen Raum, sie könnten ihrerseits von der nuklearen Abschreckung gegenüber Russland profitieren.
Risiko in der Übergangszeit
Noch ist die Aufnahme in den Nordatlantikpakt allerdings nicht gesetzt: Alle 30 Mitgliedsstaaten müssten zustimmen, die Türkei sträubt sich ganz offen. Aber auch bei Einstimmigkeit wären nicht alle Fragen sofort gelöst: "Selbst wenn man jetzt das schnellstmögliche Verfahren unternimmt, kann es bis zu einem Jahr dauern", erklärt Major.
In der Zeit zwischen dem Antrag und der tatsächlichen Aufnahme befinden sich Schweden und Finnland in einer heiklen Lage - Russland hat bereits Drohungen an Finnland gerichtet, auf die das Land laut Major aber bislang "sehr gelassen" reagiert habe. Zudem haben viele NATO-Mitgliedsstaaten Finnland und Schweden bereits bilateral die Hand gereicht: Präsident Sauli Niinistö und der britische Premierminister Boris Johnson unterzeichneten etwa jüngst eine gegenseitige Beistandserklärung, die Bundesregierung hat ihre Unterstützung mehrfach mündlich zugesichert.
Dass Russland nicht bei Warnungen und Drohungen bleibt, sondern aggressiv reagiert, ist nicht ausgeschlossen: Sicherheitsexpertin Major verweist darauf, dass es in der Vergangenheit immer wieder Cyberangriffe und Verletzungen des Luftraums durch Russland gegeben habe. "Wahrscheinlich wird es zu irgendwelchen Vorfällen kommen - etwas zwischen Verletzungen des Luftraums, Cyberattacken und anderen Dingen", prognostiziert sie. "Die Frage ist, wie wir damit umgehen; wie wir Schweden und Finnland unterstützen können."
Bislang macht die NATO deutlich, dass sie an ihrer Politik der freien Bündniswahl festhält und sich nicht gezwungen sieht, bei der Mitgliederaufnahme Russlands Wünsche zu berücksichtigen. Auch die beiden Mitgliedsanwärter senden keine Beschwichtigungen an Russland. Finnlands Präsident Niinistö fand im Gegenteil klare Worte an Russlands Präsident Wladimir Putin: "Sie haben das verursacht, schauen Sie in den Spiegel."