Parlamentswahlen in Frankreich "Eine extrem riskante Entscheidung für das Land"
Frankreich wählt ein neues Parlament - und das Ergebnis könnte weitreichende Folgen haben. Präsident Macrons Entscheidung für vorzeitige Neuwahlen hat für ein Beben in der politischen Landschaft gesorgt.
"Ich löse am heutigen Abend die Nationalversammlung auf." Ein kurzer Satz, mit dem Präsident Emmanuel Macron Frankreich in die Krise gestürzt hat. Bei der Europawahl hatte der extremrechte Rassemblement National mit gut 31 Prozent die meisten Stimmen geholt. Als direkte Reaktion auf dieses Wahlergebnis löste Macron das Parlament auf.
"Eine extrem riskante Entscheidung für den Präsidenten und das Land", sagt der Politologe und Intellektuelle Gilles Finchelstein. Macron riskiere, dass seine Partei quasi ausgelöscht werde, der Rassemblement National aber spektakulär voranschreite und vielleicht sogar eine absolute Mehrheit erringe.
Politologe befürchtet fatale Entscheidung
Es könne sogar die schlimmste politische Entscheidung der letzten 50 Jahre werden, fürchtet Finchelstein. Macrons Motivation sei zudem ein Mysterium, gesteht der 60-jährige Generalsekretär der Jean-Jaurès-Stiftung - ein Thinktank, von dem man eher Macron-freundliche Aussagen erwarten könnte, denn er wird dem Mitte-Links-Spektrum zugerechnet.
Präsident Macron selbst hatte seine Entscheidung verteidigt und den versammelten Journalisten auf einer Pressekonferenz geradezu entgegengeschleudert: "Nein zum Geist der Niederlage - Ja zum Aufstehen der Republik!" Er habe so entschieden, weil er seinen Landsleuten vertraue.
Finchelstein überzeugt das nicht: "Der Präsident fordert sie nun auf, erneut zu wählen - nur drei Wochen, nachdem sie ihm ihre Opposition ausgedrückt haben. Als hätte er das nicht richtig verstanden." Es bestehe das Risiko, dass nach der einen Lektion nun bei den Parlamentswahlen eine zweite dazukomme.
Macron sieht einen drohenden Bürgerkrieg
Bedenklich auch, dass Macron verbal große Geschütze auffährt: Die Extremrechte samt Verbündeten sei keine gute Antwort für das Land, weil sie zum Bürgerkrieg führe, sagte der Präsident in einem Podcast. Das Gleiche gelte für das Programm der Extremlinken, befindet Macron. Der Politologe Finchelstein ordnet ein: "Wir haben den kürzesten Wahlkampf unserer Geschichte, der beim Volk und bei den Politikern von Ängsten und Emotionen dominiert ist."
Für ihn sei es ein Widerspruch, wenn Macron von Neuwahlen als demokratischer Geste spreche, gleichzeitig aber mit Bürgerkrieg drohe, sollte sein Lager nicht gewinnen.
Anders als 2017, als innerhalb einer Familie noch jeder einen Grund fand, Macron zu wählen, finde mittlerweile jeder einen Grund, es nicht zu tun, hat Finchelstein beobachtet: "Stück für Stück hat sich eine Distanz zwischen Macron und den Franzosen gebildet. Sie ist inzwischen ein Abgrund. Viele werfen ihm seinen Stil vor, und dass er weit weg von ihren Problemen ist."
Kohabitation oder Stillstand als Szenarien
Für den Politologen gibt es deshalb nur noch zwei Szenarien für den Ausgang der Parlamentswahlen: "Eine absolute Mehrheit für den Rassemblement National - oder keine Mehrheit, für niemanden. Zurzeit ist jedenfalls kein Szenario denkbar, in dem der Präsident besser dasteht als vorher." Das bedeutet: Entweder gibt es eine sogenannte Kohabitation oder aber politischen Stillstand.
In einer Kohabitation entstammen Präsident und Premier verschiedenen politischen Lagern. Das hat es in den letzten 40 Jahren in Frankreich dreimal gegeben. Diesmal werde eine mögliche Kohabitation aber besonders unangenehm, denn die Differenzen zur Extremrechten seien riesig, so der Politologe, der in solch einer Kohabitation schon selbst Minister beraten hat.
Finchelsteins Hypothese ist, dass der Rassemblement National seine Strategie der Normalisierung fortsetzen und versuchen könnte, sich als "guter Partner mit Respekt vor dem Amt des Staatsoberhauptes darzustellen", um auf diese Weise das Präsidentenamt 2027 zu erobern. Eine politische Entwicklung mit vielen unbekannten Größen.
Zurücktreten? Für Macron "absurd"
Was aber, wenn jetzt eine Mehrheitsbildung in egal welche Richtung nach den vorgezogenen Parlamentswahlen unmöglich wird? Einen Rücktritt schließt Macron als "absurd" aus. Er glaube an die Kraft der Institutionen.
Macron hat in diesem Blitzwahlkampf von Anfang an auf Attacke geschaltet und haut den Gegnern ihre Wahlprogramme um die Ohren. Auf welches Lebensalter wird das Renteneintrittsalter festgelegt? Was für Waffen werden in die Ukraine geliefert? Jene, die jetzt links und rechts zusammengingen, hätten bislang doch ganz verschiedene Positionen dazu bezogen: "Wir sind bei den Verrückten! Das ist doch nicht seriös", sagte Macron am Rande des G7-Gipfels Mitte Juni.
Politologe Finchelstein versucht, die Debatte zu beruhigen: "Man muss seine Gegner in der richtigen Reihenfolge bekämpfen. Die extreme Linke allein - ohne ihre Partner in der 'Neuen Volksfront' - hat nicht genug Kandidaten für eine absolute Mehrheit aufgestellt. Scheidet sie in einem Wahlkreis aus, muss sie zur Wahl des Macron-Kandidaten aufrufen und umgekehrt."
Nicht in jedem Fall denkbar. Doch anders sei eine extremrechte Regierung in Frankreich, so Finchelstein, wohl nicht zu verhindern.