Urteil im Vergewaltigungsprozess Pelicot als Vorbild für andere Betroffene
Heute sollen im Fall Pelicot in Avignon die Urteile für die 51 Angeklagten gesprochen werden. Sie werden beschuldigt, die 72-Jährige vergewaltigt zu haben. Was hat der Mammut-Prozess in Frankreich bewirkt?
Dieser Prozess sei ein Vermächtnis, davon ist die zuständige Staatsanwältin in Avignon, Laure Chabaud, überzeugt, ein "Vermächtnis für zukünftige Generationen". Chabaud setzt darauf, dass das Gericht harte Urteile fällen und damit ein Zeichen der "Hoffnung für alle Opfer sexueller Gewalt" setzen wird. Die Staatsanwältin hat für den Hauptangeklagten Dominique Pelicot die Höchststrafe von 20 Jahren gefordert, für die übrigen 50 Angeklagten zwischen vier und 18 Jahre Haft.
Egal wie die Urteile heute ausfallen, die Anwälte von Gisèle Pelicot glauben, dass ihre Mandantin den Kampf bereits gewonnen hat. Sie habe entschieden, dass der Prozess öffentlich stattfindet und damit die Gesellschaft aufgerüttelt, erklärt Anwalt Stephane Babonneau: "Meine Mandantin wollte, dass man begreift, wie es zu dieser Geschichte kommen konnte und was daraus folgen muss, damit so etwas nicht wieder geschieht."
"Ja-heißt-Ja-Regel"
Die Debatte ist in vollem Gange. Eine konkrete und greifbare Folge des Pelicot-Prozesses wäre eine Gesetzesänderung. Viele Menschen, die regelmäßig den Prozess besuchen, fordern, dass Frankreich das "consentement", also die explizite Einwilligung in die sexuelle Handlung, ins Gesetz aufnimmt. So, wie es beispielweise Spanien getan hat. Dort gilt die "Ja-heißt-Ja-Regel".
Sabine Kräuter-Stockton, deutsche Oberstaatsanwältin im Ruhestand und Fachfrau für Sexualstrafrecht findet, dass die "Ja-heißt-Ja-Regel" längst überfällig sei: "Schließlich sind Frankreich sowie Deutschland Mitgliedstaaten der Istanbul-Konvention, das heißt völkerrechtlich dazu verpflichtet, das Sexualstrafrecht so zu verändern, dass es eine 'Ja-heißt-Ja-Regelung' gibt."
Beide Länder wurden schon dafür gerügt, dass sie die Istanbuler Konvention immer noch nicht umgesetzt haben. Kräuter-Stockton, die an der letzten großen Reform des deutschen Sexualstrafrechts mitgewirkt hat, argumentiert, dass die "Ja-heißt-Ja-Regel" helfe, all jene Fälle vor Gericht zu bringen, bei denen Frauen vor Angst, in Schockstarre oder aus Gründen vorangegangener Traumata nicht in der Lage sind, sich zu wehren oder "Nein" zu sagen.
Die deutsche "Nein-heißt-Nein-Regel", die seit 2016 gilt, besagt hingegen, dass der "entgegenstehende Wille des Opfers (…) aus der Sicht eines objektiven Dritten erkennbar" sein muss. Dies gehe ebenso wie das französische Recht nicht weit genug, findet Kräuter-Stockton. Zwar hat sich der geschäftsführende französische Justizminister Didier Migaud für die Einführung der "Ja-ist-Ja-Regel" ausgesprochen, doch ob die neue französische Regierung nun tatsächlich eine Rechtsreform anstreben wird, ist angesichts der politischen Krise der vergangenen Wochen unklar.
Mehr Geld für den Opferschutz
Doch die Rechtsreform ist nur das eine. Frauen-Organisationen fordern, dass der französische Staat auf allen Ebenen ansetzt, um Gewalt gegen Frauen generell und im Zusammenhang mit Substanzen wie K.-o.- Tropfen besser zu bekämpfen.
Muriel Trichet von der Vereinigung "Nous Toutes" hofft, dass die Gesellschaft aufwacht. "Es wäre ein echtes Wunder, wenn endlich die 2,6 Milliarden Euro bereit gestellt würden, die wir schon lange fordern." Mit dieser Summe müssten beispielsweise Richter und Richterinnen aber auch die Polizei besser geschult werden.
In Frankreich werden 94 Prozent der Anzeigen im Zusammenhang mit Vergewaltigung fallengelassen. Viele Frauen trauen sich gar nicht, Anzeige zu erstatten. Oft sind sie entmutigt davon, dass sich K.-o.-Tropfen oder Medikamente, wie sie der Hauptangeklagte und Ex-Ehemann, Dominique Pelicot, verwendete, nur kurz nach der Tat nachweisen lassen.
Vermehrt wird Rat gesucht
Urintests aber standen den Opfern bisher nicht flächendeckend zur Verfügung, Bluttests oder Haaranalysen sind teuer und werden den Opfern erst bezahlt, wenn sie bereits Anzeige erstattet haben.
Deshalb hatte die Ende November gestürzte Regierung Barnier einige Maßnahmen ins Auge gefasst: Urintests sollten kostenlos zur Verfügung gestellt und in jedem Departement ein Frauenhaus eingerichtet werden. Betroffene sollten bereits im Krankenhaus Anzeige erstatten können.
Das wäre ein großer Fortschritt findet Gynäkologin Ghada Hatem. Sie arbeitet im Frauenhaus "Maison des femmes" in Saint Denis nördlich von Paris. Hatem macht sich keine Illusionen, hat aber Hoffnung: "Ich glaube nicht, dass der Prozess in der Sache irgendetwas ändern wird. Aber er kann dazu beitragen, dass Frauen oder auch Kinder einem Verdacht hartnäckiger nachgehen."
"Das gibt es viel häufiger als man denkt"
Ärzte und Ärztinnen müssten sich bewusst machen, dass man auch innerhalb der Familie Opfer von chemischer Unterwerfung werden kann. Dabei werden dem Opfer ohne sein Wissen oder gar der Einwilligung psychoaktive Substanzen verabreicht. Nicht alle Mediziner müssten dafür spezialisierte Toxikologen werden. "Aber sie sollten sich das Unvorstellbare vorstellen. Denn das gibt es viel häufiger als man denkt."
Anlaufstellen wie das CRAF von der öffentlichen Gesundheitsbehörde verzeichnen seit Mitte Oktober einen deutlichen Anstieg an Anrufen. Das könne durchaus mit dem Pelicot-Prozess zusammenhängen, vermuten Frauenrechtlerinnen. Opfer - darunter überraschenderweise viele ältere Frauen - aber auch Ärztinnen und Ärzte oder Pharmazeuten fragten bei der Fachstelle vermehrt um Rat, wollten Symptome chemischer Unterwerfung durch Drogen oder Medikamente besser erkennen.
Gisèle Pelicot als Vorbild
Viele Juristinnen und Feministinnen hoffen, dass sich nun immer mehr Frauen trauen, dem Beispiel von Gisèle Pelicot zu folgen und Vergewaltigungsprozesse öffentlich stattfinden zu lassen. In den Augen von Oberstaatsanwältin Kräuter-Stockton etwa ist Gisèle Pelicot "ein tolles Vorbild".
In Frankreich jedenfalls ist sie mit ihrem mutigen, entschlossenen Auftreten zu einer Ikone der französischen Frauenbewegung geworden. Gisèle Pelicot hat vor Gericht gesagt, sie wolle mit diesem Prozess das Verhältnis von Mann und Frau grundlegend ändern. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.