Brief im Vatikan aufgetaucht Papst Pius XII. und der Holocaust
Seit Jahrzehnten beschäftigt nicht nur die katholische Kirche die Frage, was Papst Pius XII. vom Holocaust wusste - und warum er sich nicht energisch dagegen stellte. Ein Brief schafft nun Klarheit.
Es ist ein vergilbtes Blatt Papier, eng beschrieben mit einer Schreibmaschine. Ein Brief, datiert auf den 14. Dezember 1942, der vor kurzem gefunden wurde in den päpstlich-vatikanischen Archiven. Und der eine neue Antwort gibt auf die seit Jahrzehnten diskutierte Frage: Was wusste Papst Pius XII. von den Verbrechen in Nazi-Deutschland?
Dieser Brief, sagt Giovanni Coco, sei so bedeutsam, weil "er der einzig verbliebene Beleg eines Schriftwechsels zwischen dem Sekretariat Pius XII. und dem deutschen Widerstand" sei.
Coco sitzt in einem Nebenraum der Archive am Belvedere-Hof vor den Vatikanischen Gärten. Der Archivar und Historiker hat den mehr als 80 Jahre alten Brief entdeckt. Ein Dokument, in dem der Vatikan darüber informiert wurde, dass täglich die Leichen von 6.000 Menschen, vor allem Juden und Polen, vernichtet werden in den SS-Verbrennungsöfen in der Nähe von Rawa Rus‘ka, also im Vernichtungslager Belzec. Auch Auschwitz wird erwähnt.
Nachricht "aus dem Inneren des Dritten Reiches"
Die alarmschlagende Botschaft im Schreiben an das Sekretariat von Papst Pius: Die Nazis machten "tatsächlich ernst" mit der Ausrottung der Juden und Polen. "Es ist eine Stimme aus dem Bauch des Drachens", sagt Coco. Sie komme direkt aus "dem Inneren des Dritten Reichs", mit Informationen, die im Widerstand kursierten. Der Vatikan-Archivar betont: "Diese Informationen, darüber haben wir nun Gewissheit, gelangten bis zu den Ohren des Papstes."
Geschrieben ist der brisante Brief vom deutschen Jesuitenpater Lothar König, ein enger Bekannter des damaligen persönlichen Sekretärs von Papst Pius, Robert Leiber. König war für den bürgerlichen Widerstandszirkel Kreisauer Kreis tätig als eine Art Kurier und Verbindungsmann zum Vatikan. Sein Brief aus dem Dezember 1942 lag nach Pius‘ Tod jahrzehntelang unentdeckt im Vatikan.
Bis 2019, unter Papst Franziskus, aus dem Staatssekretariat große Mengen an Dokumenten aus der Zeit des Papstes, der die katholische Kirche im Zweiten Weltkrieg führte, den vatikanischen Archiven zur Verfügung gestellt wurden. Ungeordnet und durcheinander.
Archivar Coco machte sich an die Arbeit - bis ihm das brisante Papier in die Hände fiel. Der Brief sei ihm aufgefallen, erklärt Coco, "weil er nicht mit vollständigem Namen unterzeichnet war. Sondern mit 'euer Lothar'". Auch die Anrede "Lieber Freund" haben ihn aufhorchen lassen: "Das gab den Anstoß, diesen Brief genauer zu lesen."
Der Brief, den der Papst aus Deutschland erhielt, war unmissverständlich. Doch der Papst schwieg zu den darin beschriebenen Gräueltaten.
Die Zweifel sind beseitigt
Ein Brief, der keine Zweifel mehr lässt: Papst Pius XII. war gut, war sehr gut informiert darüber, dass die Nazis systematisch und massenhaft Juden ermordeten. "Zu behaupten, dass es wenig Informationen gab oder dass sie wenig glaubhaft waren, ist wirklich schwierig", sagt der beim Vatikan angestellte Coco. Hier spreche "eine vertrauenswürdige, sehr gut informierte Quelle, der man sehr viel Glauben schenkt".
Bemerkenswert ist, dass dieser neue Beweis über Pius' Wissen der Nazi-Verbrechen direkt und ungefiltert aus dem Vatikan selbst kommt. Dort wurde Brisantes früher gerne zurückgehalten.
Nun aber darf der Finder offen reden. Das Interview mit dem ARD-Studio Rom hat sich Archivar Coco von seinem Vorgesetzten genehmigen lassen - und darf es dann ohne Aufsicht unter vier Augen führen.
Was bedeutet das für die Seligsprechung?
Zu Pius XII. läuft im Vatikan seit mehreren Jahrzehnten ein Verfahren zur Seligsprechung. 2009 wurde die "geschichtliche Phase" dieses Prozesses abgeschlossen. Der damalige Papst Benedikt XVI. sprach Pius XII. "heroische Tugenden" zu. Um die Seligsprechung für Pius abzuschließen, ist nach den Regeln der katholischen Kirche jetzt noch der Nachweis eines durch Pius vollbrachtes Wunders notwendig.
Ob das nun gefundene Dokument Einfluss auf das laufende Verfahren zur Seligsprechung von Papst Pius XII. haben wird? Briefentdecker Coco zuckt mit den Schultern: "Ich weiß nicht, ob dieses Dokument da Gewicht haben wird." Das liege in der Kompetenz des Dikasteriums für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, sagt Coco und ergänzt: "Zweifellos lässt es uns das geschichtliche Wissen vertiefen - über diesen Mann und seine Zeit."
Coco weist darauf hin, dass Lothar König, der Kurier des Kreisauer Kreises, in dem Brief auch um Stillschweigen und Vorsicht bittet. Möglicherweise, meint Coco, liege darin eine weitere Erklärung für das öffentliche Schweigen Pius' zu den Naziverbrechen.
Neue Transparenz?
Auf die Frage, ob es ein Zeichen neuer Transparenz sei, dass der Vatikan von sich aus und ungefiltert den Fund des brisanten Briefes an Pius bekanntgibt, wählt der Archivar eine diplomatische Antwort: "Sicherlich zeigt es, dass es den Willen gibt, die Dinge zu tun mit wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit", und an dieser Stelle legt der Archivar eine kurze Pause ein, um dann hinzuzufügen - "und ohne Angst".