Nach Angriff im Sejm Polens Problem mit dem Antisemitismus
Nach dem antisemitischen Angriff eines rechtsextremen Politikers in Polen sind die Reaktionen gemischt. Viele sind schockiert - andere unterstützen ihn. Antisemitismus hat in Polen eine lange Geschichte.
Die erste Reaktion, nachdem der rechtsextreme Abgeordnete Grzegorz Braun im polnischen Sejm eine Chanukkazeremonie mit einem Feuerlöscher angegriffen hat, fällt laut und eindeutig aus. Angeordnete aller Fraktionen sind schockiert.
"Wir können nicht zulassen, dass das Böse das Gute überwältigt, dass der Wahnsinn, das Absurde, Beleidigungen und Rassismus oder Antisemitismus die Ordnung im Sejm bestimmen", sagt Sejmmarschall Szymon Hołownia. Braun wird von der Sitzung ausgeschlossen. Eine Geldstrafe wird verhängt.
Antisemitismus als Tradition?
Die zweite Reaktion ist auch deutlich: Innerhalb weniger Stunden gehen umgerechnet mehr als 11.000 Euro Spenden ein - für Grzegorz Braun, damit der seine Strafe zahlen kann. Antisemitismus findet Unterstützung und hat Tradition - auch in Polen.
Vier Tage danach, am 16. Dezember, findet ein Jahrestag statt, der weitgehend unbeachtet bleibt. Vor 101 Jahren wurde Polens erster Präsident nach der Unabhängigkeit, Gabriel Narutowicz, nach nur fünf Tagen im Amt ermordet. Die polnische Rechten hatte ihn zuvor als "Kandidat der Juden" diffamiert.
Viele Vorurteile gegen Juden
Michał Bilewicz, Leiter des Zentrums für Vorurteilsforschung an der Universität Warschau, sagt, etwa 40 Prozent der Menschen in Polen glaubten, dass "Juden hinter den Kulissen Pläne schmieden, um Macht über Finanzinstitute, die Welt der Kultur und Politik zu erlangen".
"Vergleichende Forschungen der Europäischen Agentur für Grundrechte zeigen, dass die Natur des Antisemitismus in Ost- und Westeuropa unterschiedlich ist", sagt Bilewicz. "In Osteuropa ist er viel stärker mit der extremen Rechten verbunden, in Westeuropa vor allem mit der extremen Linken und muslimischen Gruppen."
Forscherin: Polen enttäuschte Juden während des Kriegs
Bilewicz sieht neben uralten und modernen Verschwörungsgeschichten eine Besonderheit: den sekundären Antisemitismus, die Verharmlosung oder gar Leugnung von Verbrechen gegen Juden, die auch in der polnischen Politik zu finden seien.
Zum Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstands im April dieses Jahres, sagt die Holocaustforscherin Barbara Engelking in einem Interview: Zwar hätten viele Polen damals Juden geholfen, es habe aber auch viele Denunzianten gegeben. "Die Juden wurden von den Polen während des Krieges außergewöhnlich enttäuscht", so Engelking. "Was sie von den Deutschen zu erwarten hatten, wussten sie. Die Beziehungen zu den Polen war viel komplizierter."
PiS streitet Darstellung ab
Die damalige polnische Regierung der PiS-Partei reagiert entrüstet. Polen, so ihre Erzählung, waren Opfer und Helden, auf gar keinen Fall Täter. Dass auch die polnischen Nachbarn zum Beispiel in Jedwabne oder Kielce Pogrome verübten, hat da keinen Platz.
Engelking wird massiv angegangen und tritt seitdem kaum noch öffentlich auf. 2018 hatte die Regierung sogar versucht, per Gesetz unter Strafe zu stellen, wenn Polen eine Mitschuld an Verbrechen gegen Juden im zweiten Weltkrieg gegeben wird. Das Verhältnis zwischen Israel und Polen ist - unter anderem deshalb - bis heute angespannt.
Juden als Sündenbock
1968, lange nach dem Krieg, erlebt Polen eine neue Welle des Antisemitismus. Władysław Gomółka, der Generalsekretär der polnischen Einheitspartei, findet in der kleinen jüdischen Gemeinde, die die Shoa überlebt hat, einen Sündenbock für die Studentenproteste im Land. "An den Ereignissen war ein Teil der studentischen Jugend jüdischer Abstammung oder Nationalität aktiv beteiligt", sagt er. "Eltern vieler dieser Studenten bekleiden mehr oder weniger verantwortungsvolle und auch hohe Posten in unserem Staat."
Geschätzt 13.000 Jüdinnen und Juden verlassen das Land. Auch hier gab es etliche Fälle von Denunziation, oft zum eigenen Vorteil. Auch hier ist die offizielle Erzählung bis heute keine selbstkritische. Schuld waren nicht die Polen, sondern die ihnen von Moskau aufgezwungene Regierung.
Der Rabbiner Shalom Ber Stambler hatte kurz vor dem Angriff die Kerzen des Chanukkaleuchters in einer Zeremonie angezündet.
Rabbiner: "Sollte nicht auf einzelne Person schauen"
Etwa 7.000 Menschen umfasst die jüdische Gemeinde in Polen heute wieder. Sie ist klein, aber sichtbar. Am Tag nach dem Angriff im Sejm wird die Zeremonie wiederholt.
Rabbiner Szalom Ber Stambler sagt, er fühle sich in Polen sicher. "Man sollte nicht auf eine einzelne Person schauen, die mit etwas Schrecklichem provoziert, sondern auf all die Reaktionen", so Ber Stambler. "Viele Menschen haben mich angerufen, ihre Solidarität geäußert und gesagt, dass sie sich schämen."
Grzegorz Braun, der Antisemit mit dem Feuerlöscher, habe Dunkelheit bringen wollen und stattdessen Licht gemacht.