Trauerfeier für die Opfer der Hamas-Terrorangriffe auf Israel in der Synagoge von Brüssel (Belgien)
europamagazin

Brüssels jüdische Gemeinde Viel Furcht - und das Prinzip Hoffnung

Stand: 21.10.2023 13:46 Uhr

Der Terror der Hamas und pro-palästinensische Demonstrationen lösen auch in den jüdischen Gemeinden in Europa Ängste aus. In Brüssel trauen sich viele nicht mehr, die Kippa zu tragen. Eine Organisation setzt dagegen auf Begegnung.

Von Cornelia Kolden, ARD Brüssel

Der Mittwoch nach den Terroranschlägen in Israel - vor dem europäischen Parlament ruft die jüdische, säkulare Gemeinde in Brüssel zu einer Mahnwache für die Geiseln der Hamas auf. Es soll die stärkste Präsenz israelischer Flaggen in der belgischen Hauptstadt bleiben, hier, wo Juden in der Mehrheit eher unsichtbar sind. Aber nicht an diesem Tag, im Entsetzen und in Trauer an der Seite Israels. In dem Wissen auch, dass sie stets mitgemeint sind. Hohe Polizeipräsenz sind sie gewöhnt, sie gehört zu ihrem Alltag.

Wie Brüssels jüdische Gemeinde auf den Angriff auf Israel reagiert

Cornelia Kolden, ARD Brüssel, Europamagazin, 22.10.2023 12:45 Uhr

Mit dabei, sehr ernst, Nicolas Zomersztajn, Redakteur der jüdischen Zeitung "Regards". Bei einer Begegnung einige Tage später sagt er nachdenklich: "Es ist für niemanden angenehm, nicht für Erwachsene, nicht für Kinder, immer extrem beschützt zu sein, überall Polizei, Wachen in Zivil, die uns beschützen. Wir haben nicht darum gebeten. Wir würden lieber wie alle anderen sein."

"Der Antisemitismus ist immer latent präsent"

Mitten in Brüssel liegt das jüdische Museum. Hier glaubte man, ohne Bewachung auskommen zu können. Bis zu einem Attentat 2014. Vier Menschen wurden damals erschossen. "Jede Krise im Nahen Osten, alle diese Krisen, bringen den Antisemitismus wieder hervor, der immer latent präsent ist", sagt Zomersztajn. "Es gibt da einen Zusammenhang, aber es wäre etwas zu einfach, ausschließlich die Verbindung zum Nahen Osten zu sehen. Das ist nur der Auslöser, der ihn sichtbar macht und verschärft."

Die zunehmende Gewalt auf der Straße sorgt dafür, dass sich jüdische Identität unsichtbar macht. Ariella Woitchik vom europäischen jüdischen Kongress erzählt, dass Juden in Europa zutiefst verunsichert seien.

Bei jeder Krise gibt es immer diese Frage: Gehören wir hierher? Ich hoffe es, weil ich mich als Belgierin fühle, ich bin hier geboren. Ich will gar nicht woanders leben. Man hofft natürlich, niemals zum Weggehen gezwungen zu werden. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass wir manchmal auf gepackten Koffern sitzen sollten. Darauf haben wir keine Lust.
Pro-palästinensische Demonstration in Brüssel (Belgien)

Demonstrationen in Solidarität mit den Palästinensern und mit den Israelis ...

Eine Jugendgruppe zeigt als Zeichen der Solidarität mit Israel eine Flagge des Landes in Brüssel (Belgien)

... prägten in Brüssel in den Tagen nach dem Terrorangriff der Hamas das Straßenbild.

Ist Israel noch der sichere Hafen?

Aber gerade sei Israel, eigentlich der sichere Hafen für Juden, kaum eine Alternative.

Solange die Regierungen auf unserer Seite sind, verstehen sie, dass der Kampf gegen Antisemitismus der Kampf für die Wahrung europäischer Werte ist, dass Antisemitismus eine soziale Krankheit ist, dass es nicht Sache der Juden ist, ihn zu bekämpfen, zumindest nicht allein, dass die Gesellschaft an unserer Seite sein sollte.

Wesentliche Quelle des wachsenden Antisemitismus ist das Netz. EU-Kommissar Thierry Breton findet dafür klare Worte. "Antisemitismus oder Rechtfertigung von Terrorismus sind keine Meinungen, sondern per Gesetz zu verurteilen, nicht nur Offline, auch Online."

Ein Projekt gegen die Unkenntnis

Immunisierung gegen Fake News, mehr Bildung für junge Leute über einen komplexen Konflikt - das ist das Projekt von Simone Susskind. Die Menschenrechtlerin und Senatorin bringt regelmäßig Jugendliche und Lehrer aus Belgien nach Israel. Sie zeigt ihren Gruppen auch die besetzten Gebiete. Und die Gedenkstätte Yad Vashem ist natürlich im Programm.

Susskind will, wie sie sagt, alle Seiten zeigen, nicht nur ein Schwarzweiß-Bild. Man sollte meinen, die Situation heute ließe sie verzweifeln, aber hier sitzt sie, unbeirrt, mit ihrem freiwilligen Helfer Younes El Montasser, der zugleich stellvertretender Schuldirektor in Molenbeek ist. Und es gibt Probleme zu besprechen:

In unserer Schule haben wir noch keine Schüler beobachtet, die Partei ergriffen haben, ob pro-israelisch oder pro-palästinensisch. Was wir berichten können, ist, dass uns Lehrer um Unterstützung bitten. Sie haben Bedenken, weil sie mit Aktualität konfrontiert sind, die sie gerne mit Schülern besprechen wollen, aber sie fühlen sich dafür nicht gerüstet.

Angriff weckt Erinnerung an die Shoah

Susskind spricht von dem "brutalen Angriff", den die Israelis erlebt haben - "und zwar bei ihnen zuhause, in der Heimat. Das gab es noch nie, und da kommt natürlich die Shoah wieder hoch, und damit das Gefühl der existentiellen Bedrohung. Und gleichzeitig sprechen die Palästinenser wieder von der Nakba, dem Verlust von ihrem Land, dem palästinensischen Flüchtlingsdrama. Es gibt zwei Darstellungen der Geschichte, die man beide nicht vergessen sollte, aber wir müssen da irgendwie raus ..."

Ehemalige Schülerinnen Simones haben um ein Treffen gebeten. In ihrer Uni wurden die Plakate mit Bildern der Hamas-Geiseln systematisch abgerissen.

Eigentlich haben die Mädchen Freunde auf palästinensischer und israelischer Seite, aber nun sind sie ratlos. "Das löst Hass aus, den ich nicht wirklich verstehe", sagt Flore, "hier sind Menschen in Lebensgefahr, nicht die Flagge eines Landes."

Aber Partei ergreifen - einfach so - das wollen sie auch nicht. Und das ist heutzutage vielleicht schon sehr viel bei diesem Konflikt.  

Diese und weitere Reportagen sehen Sie im Europamagazin - am Sonntag um 12.45 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste im "Europamagazin" am 22. Oktober 2023 um 12:45 Uhr.