Ein Fahrzeug der Polizei kontrolliert am Grenzzaun zwischen Polen und Belarus in Bialowieza

Polen Ein Grenzzaun mit Lücken

Stand: 30.06.2023 07:28 Uhr

Vor einem Jahr wurde eine neue Befestigung an der Grenze zwischen Polen und Belarus eingeweiht. Doch das Bauwerk hat sich als überwindbar erwiesen, und im polnischen Grenzgebiet berichten Anwohner von weiterhin dramatischen Fluchtversuchen.

Ein Jahr nach der offiziellen Fertigstellung des Grenzzaunes an der Ostgrenze stellt der polnische Grenzschutz fest, es gebe keine Barriere, die man nicht überwinden könne. Aber, sagt Sprecher Michal Bura, seine Behörde habe nun mehr Zeit, einzugreifen.

Jetzt kämen vor allem Männer zwischen 20 und 40 Jahren. Vor dem Bau des Grenzzauns hätten es auch Frauen und Kinder versucht, sogar Schwangere.

Dramatische Szenen - offenbar von Belarus mit herbeigeführt

Polen reagierte mit dem Bau eines elektronisch überwachten, stacheldrahtbewehrten Grenzzauns auf die zunehmende Zahl von Migranten aus vornehmlich arabischen und afrikanischen Ländern, die seit 2021 auftauchten; dabei offenkundig unterstützt vom belarusischen Staat.

Bisweilen hielten nur noch Ketten von Polizisten mit Schildern ganze Gruppen zurück, es kam zu Gewaltausbrüchen. Die Praxis der Zurückweisung ließ manche Menschen tagelang in der waldreichen Region umherirren; einige bezahlten es mit ihrem Leben.

Migranten im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus im September 2021

Szenen wie diese waren im Spätsommer 2021 häufig zu sehen - Migranten, die über Belarus versuchten, nach Polen zu kommen und im Grenzgebiet auf teils dramatische Weise strandeten.

Die Folgen - bis heute spürbar

Für die Bewohner im Grenzland brachte der Grenzzaun einerseits Erleichterung; monatelang war ihre Heimat Sperrgebiet. Das ist es nun nicht mehr, aber der grenzüberschreitende Kleinhandel oder der Tourismus haben sich nicht mehr erholt. Fragt man Bewohner in der Grenzstadt Krynki, hört man Berichte von Geflüchteten, die in den Wäldern übernachten, von Menschen, die versuchten, über den Grenzfluss nach Polen zu kommen. Gefährlich sei das, sagt eine Frau, viele seien ertrunken.

Zumal hinter den Flüssen gestaffelte Rollen von NATO-Draht weitere Barrieren bilden, zudem gibt es lebensgefährliche Sumpfgebiete. Wenn sie doch den Grenzzaun selbst überwinden wollen, so nutzen die Menschen, soweit erkennbar, Tunnel wie Leitern; in arabischsprachigen Chatforen wird für ein paar tausend Dollar auch schlicht angeboten, Löcher in den Zaun zu reißen.

Mauerkritiker im Grenzort Krynki argumentieren, dass die Grenzbefestigung nur dazu führe, dass mehr Menschen die Dienste krimineller Schleuser in Anspruch nehmen und gefährlichere Wege einschlagen.

Polnische Aktivisten versuchen bei Bialowieza, Kontakt mit Migranten auf der belarusischen Seite aufzunehmen.

Was geschieht hinter dem Grenzzaun? Polnische Aktivisten versuchen bei Bialowieza, Kontakt mit Migranten auf der belarusischen Seite aufzunehmen.

Schwierige Recherche in Grenznähe

Was genau im Grenzgebiet geschieht und wie viele Menschen dort nach wie vor möglicherweise unentdeckt sterben, ist unbekannt: Einheimische meiden die Grenznähe, und auch das ARD-Team wird bei einer Besichtigung von maskierten polnischen Soldaten belehrt, dass es sich um militärisch kontrolliertes Gebiet handelt - und zum Verlassen aufgefordert.

Seit Jahresbeginn verzeichnete der polnische Grenzschutz offiziell 12.500 Versuche von Menschen aus 44 Staaten, die Grenze irregulär zu überqueren. Die Flüchtlingsorganisation "Grupa Granica" bekam im selben Zeitraum nach eigenen Angaben 4600 Anrufe von im Grenzraum in Not geratenen Migranten.

Die Behörden in Polen und im benachbarten Litauen warnten zuletzt vor verstärkten Aktivitäten von belarusischer Seite aus. Dies könne im Zusammenhang mit dem anstehenden NATO-Gipfel in der litauischen Hauptstadt stehen.

Karte: Polen und Belarus

 

Jan Pallokat, ARD Warschau, tagesschau, 29.06.2023 12:57 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 30. Juni 2023 um 10:31 Uhr.