interview

Kremlgegner Chodorkowski "Alexej war in der gleichen Situation wie ich"

Stand: 15.02.2021 17:57 Uhr

Chodorkowski war einst der stärkste Gegner Putins. Im ARD-Interview spricht er über Parallelen seines Lebens zum Fall Nawalny - und darüber, warum er nicht an einen friedlichen Machtwechsel in Russland glaubt.

ARD: Herr Chodorkowski, denken Sie oft an eine Rückkehr nach Russland?

Chodorkowski: Die ganze Zeit, weil meine Frau immer an Russland denkt. Und auch ich habe immerhin 50 Jahre meines Lebens dort verbracht.

Michail Chodorkowski vor einer Filmvorführung in Venedig (Foto vom 1.08.2019).
Zur Person

Der Kremlkritiker Michail Chodorkowski war in den 1990er-Jahren einer der einflussreichsten Menschen Russlands: ein Unternehmer und Oligarch, der sich später öffentlich gegen die Politik Wladimir Putins positionierte. 2003 wurde er verhaftet und 2005 wegen Betrugs verurteilt. Genau wie im Fall Nawalny gilt das Urteil gegen ihn als politisch motiviert.

2013 wurde er von Putin überraschend begnadigt und verließ das Land. Zwei Jahre später wurden neue Verfahren gegen ihn eröffnet. Bei einer Rückkehr nach Russland droht Chodorkowski eine lebenslange Haftstrafe. Er lebt in London.

ARD: Bedauern Sie, dass Sie mit Blick auf die aktuellen Ereignisse nicht dort sind?

Chodorkowski: Ja und nein. Ich bedauere es insofern, als dass du inmitten der Ereignisse mehr Möglichkeiten hast, mehr Informationen, du bist stärker beteiligt. Andererseits bereue ich es nicht. Denn was jetzt in Russland passiert, ist eine Verschärfung des Regimes. In Russland führt das dazu, dass du entweder schweigst und genau filterst, was du sagst. Oder du siehst dich gezwungen, weiter zu reden, dann aber hinter Gittern. Beide Optionen schränken die Möglichkeiten ein, am öffentlichen Leben teilzunehmen.

ARD: Alexej Nawalny hat sich entschieden nach Russland zurückzukehren, obwohl er wusste, was ihn erwartet. Wie bewerten Sie seine Entscheidung?

Chodorkowski: Alexej befand sich bei seinem Aufenthalt in Deutschland in der gleichen Situation wie ich 2003. Entweder er bleibt in Deutschland und niemand hört ihn - oder er kehrt zurück nach Russland und das Gericht bietet ihm eine Bühne, von der aus er von vielen Menschen gehört wird. Und deshalb war mir klar, dass er zurückkehren muss.

Michail Chodorkowski bei einem Gerichtstermin in Moskau (Bild vom 16.06.2004).

Michail Chodorkowski bei einem Gerichtstermin in Moskau (Bild vom 16.06.2004).

"Nicht leicht zu verstehen, dass du im Gefängnis sterben kannst"

ARD: Sie sagen das so selbstverständlich. Für viele ist es das nicht. Wie haben Sie sich damals gefühlt, als Sie in diesem Glaskäfig vor Gericht standen?

Chodorkowski: Ich hatte zwei Phasen. Im ersten Prozess habe ich, genau wie viele deutsche Staatsbürger und deutsche Politiker, nichts verstanden. Ich dachte, das Gericht könne sich ein eigenes Urteil bilden. Natürlich war mir klar, dass die Regierungsbehörden etwas von dem Gericht fordern. Aber ein Gericht kann ja nicht sagen, dass Weiß plötzlich Schwarz ist. Und deshalb habe ich versucht, mich zu verteidigen und vor Gericht zu sprechen, als würde ich mit einem normalen Gericht sprechen.

Ich habe erst im zweiten Prozess verstanden, dass das eigentlich eine Theatervorführung ist. Das Urteil stand schon fest. Also habe ich direkt meine Mitbürger angesprochen. Alexej hat das damals genau verfolgt. Und deshalb wird er sich vor Gericht an die Gesellschaft wenden.

ARD: Hätten Sie diese Entscheidung auch getroffen, wenn Sie gewusst hätten, dass Sie zehn Jahre Haft erwarten? Was haben Sie damals durchgemacht?

Chodorkowski: Das war schrecklich. Schrecklich für meine Familie und auch nicht leicht für mich. Besonders schwer war es, als ich verstanden habe - und das muss leider auch Alexej Nawalny verstehen: Es gibt keinen festen Zeitpunkt, an dem du garantiert rauskommst. Sie können jeder Zeit locker noch ein Jahr, noch fünf, noch zehn Jahre drauflegen. Es ist nicht leicht zu verstehen, dass du im Gefängnis sterben kannst. Aber damit muss man leben.

ARD: Das steht der Familie Nawalny also erst noch bevor?

Chodorkowski: Seine Frau Julia wirkt auf den Fernsehbildschirmen wie eine eiserne Lady. Das ist gut. Aber was in ihrem Innern vorgeht, weiß wohl nur sie allein.

"Glaube nicht an süße Reden" von friedlichem Machtwechsel

ARD: Politische Häftlinge stehen im Fokus der Aufmerksamkeit. Im Exil verlieren Sie zunehmend an Bedeutung, an Einfluss. Wie bewerten Sie dieses Dilemma der russischen Opposition?

Chodorkowski: Die Arbeit muss von beiden Seiten ausgeführt werden. Ich habe sie zehn Jahre lang aus dem Gefängnis ausgeführt und jetzt führe ich sie seit sieben Jahren aus dem Ausland. Alexej und viele andere politische Häftlinge führen diese Arbeit aus Russland aus. Wir unterstützen sie jetzt genau so, wie ich zu meiner Zeit unterstützt wurde.

Eines der Projekte stellt sicher, dass kein politischer Gefangener, der die Unterstützung und den Schutz unabhängiger Anwälte in Anspruch nehmen möchte, auf diese Unterstützung verzichten muss. Bislang gelingt uns das - auch, wenn die Rolle von Anwälten im heutigen Russland sehr begrenzt ist.

ARD: Welche Chancen hat die junge post-sowjetische Generation, die gerade vor allem auf die Straßen geht?

Chodorkowski: Ihre Chancen liegen bei 100 Prozent, weil sie diese Banditen einfach überleben werden. Die, die heute 30 sind, werden sicher länger leben als Putin. Aber es ist klar, dass sie die Veränderung gerne früher sehen würden. Und wenn wir von einem früheren Zeitpunkt sprechen, dann glaube ich nicht an diese süßen Reden, dass friedlicher Protest zu einem Machtwechsel führt.

"Menschen sehen, dass nicht alle hinter Putin stehen"

ARD: Sie halten also einen friedlichen Protest, wie zuletzt mit den Taschenlampen in den Innenhöfen, für unzureichend?

Chodorkowski: Wenn die Menschen sehen, dass die Hälfte ihrer Nachbarn im Innenhof steht, dann verstehen sie, dass nicht alle hinter Putin stehen. Dass solche Behauptungen Lügen sind. Insofern ist das gut. Aber solche Aktionen werden in unserem Land nicht zu einem Machtwechsel führen. Die herrschende Regierung ist heute dazu bereit zu schießen, zu töten, zu vergiften, wie wir alle sehen. Veränderungen wird es nur geben, wenn die Menschen wirklich auf die Barrikaden gehen.

ARD: Herr Chodorkowski, denken Sie, dass Sie eines Tages nach Russland zurückkehren werden?

Chodorkowski: In jedem Fall glaube ich daran.

Das Interview führte Vassili Golod, ARD-Studio London.