Gefangenenaustausch Große Erleichterung und bittere Enttäuschung
Die Angehörigen der Freigelassenen atmen nach Jahren des Bangens auf. Viele politische Gefangene aber bleiben in russischer und belarusischer Haft. Und die Freilassung des "Tiergartenmörders" sorgt für Verbitterung.
Er hätte nicht mehr aus dem Gefängnis freikommen sollen: Dem Russen Vadim Krassikow konnte der Mord am Mittag des 23. August 2019 mitten in Berlin anhand zahlreicher Spuren nachgewiesen werden. Als Hinrichtung beschrieben mehrere Zeugen die Schüsse auf den tschetschenisch-stämmigen Georgier Selimchan Changoschwili, der schon reglos am Boden lag.
Der Strafsenat des Kammergerichts unter dem Vorsitzenden Richter Olaf Arnoldi stellte eine besondere Schwere der Schuld fest. Am Ende der Urteilsverkündung am 15. Dezember 2021 sprach Arnoldi von russischem Staatsterrorismus - einem Mord im Auftrag des russischen Staates, auch um viele in Deutschland lebende Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin einzuschüchtern. Deshalb gab es in politischen und juristischen Kreisen größte Vorbehalte, einen Austausch Krassikows auch nur zu erwägen, solange er nicht wenigstens zehn Jahre in einem deutschen Gefängnis verbracht hat.
Verbitterung und Misstrauen
Dass er nun schon nach nicht einmal fünf Jahren in Haft nach Russland abgeschoben wurde, verbittert vor allem die Angehörigen des Opfers. Sie seien im Vorfeld nicht einmal kontaktiert worden, beklagt etwa der Bruder Surab. Womöglich hätte er zugestimmt, viele Menschen im Austausch freizulassen. Aber dass dies niemanden interessiert habe, sei unheimlich kränkend und traurig.
Er verweist auf einen weiteren Umstand: Noch immer ist nicht geklärt, wer Krassikow bei der Tat half, die er unmöglich allein vorbereitet haben konnte. Surab Changoschwili muss derweil mit seiner Familie mit der Abschiebung nach Georgien rechnen, wo sie sich noch weit unsicherer fühlen als in Westeuropa.
Der Mord im Herzen Berlins und am helllichten Tag sei für die Tschetschenen in Europa ein Zeichen für Putins weitreichenden Arm gewesen, sagt der Rechtswissenschaftler Adam Ashab. Die tschetschenischen Oppositionsgruppen in Europa seien zersplittert, aber eines hätten sie gemeinsam: mangelndes Vertrauen in die europäische Politik, wenn es um Russland geht. Einige demokratiefeindliche Gruppen könnten die Abschiebung Krassikows nutzen, um neue Mitglieder zu rekrutieren.
Gefahr von Geiselnahmen verringert?
Die Bundesregierung nennt in einer Mitteilung zur Entscheidung über die Abschiebung Krassikows die Schutzverpflichtung gegenüber deutschen Staatsangehörigen und die Solidarität mit den USA als "wichtige Beweggründe". Anders als durch die Überstellung russischer Staatsangehöriger mit geheimdienstlichem Hintergrund sei es nicht möglich gewesen, die Freilassung von 15 unrechtmäßig in Russland in Haft Sitzenden sowie des in Belarus zum Tode verurteilten Deutschen Rico K. zu erwirken.
Vieles deutet daraufhin, dass Rico K. in eine Falle gelockt worden war, um als Geisel benutzt zu werden. Ähnliches lässt sich für weitere Deutsche vermuten, die nach dem Urteil gegen Krassikow gefangen genommen worden waren. Das Auswärtige Amt hatte seit langem und zuletzt dringlich vor willkürlichen Festnahmen in Russland gewarnt.
Fraglich ist, ob es mit dem Austausch gelungen ist, die Gefahr weiterer Geiselnahmen zur Freipressung russischer Staatsangehöriger zu bannen. Zwar wurden weitere mutmaßliche und verurteilte Agenten in den Tausch einbezogen. Darunter solche, die sich über Jahre eine Tarnung aufgebaut hatten. Auch der Sohn eines Duma-Abgeordneten wird zu den Getauschten gezählt, der als Cyberkrimineller in den USA verurteilt worden war.
Aber es gibt weitere inhaftierte russische Staatsangehörige in westlichen Staaten. Und Russlands aggressives Vorgehen lässt vermuten, dass es auch künftig Festnahmen von russischen Saboteuren und Spionen geben wird.
Schicksal wie jenes von Nawalny verhindern
Wie viele russische Staatsangehörige aus europäischen Staaten und den USA für den Austausch freigegeben wurden, gibt die Bundesregierung nicht an. Ihnen stehen immerhin 16 Personen gegenüber, die Russland und Belarus verlassen durften, neben Deutschen und US-Bürgern auch mehrere russische politische Gefangene.
Der dringendste Fall unter ihnen dürfte wohl der Aktivist Wladimir Kara-Mursa gewesen sein. Da er unter den Folgen zweier Giftanschläge litt und unter harten Haftbedingungen lebte, war die Befürchtung groß, dass ihn ein Schicksal wie den Oppositionellen Aleksej Nawalny ereilen könnte, der Mitte Februar in Haft starb.
Entsprechend groß war die Erleichterung der Angehörigen, Mitstreiter und Verbündeten, als mehrere US-Medien bestätigten, dass Kara-Mursa freikommen würde. Auch für so einige Angehörige der anderen Getauschten war es wohl einer der glücklichsten Tage in ihrem Leben.
Doch Hunderte, die unter fadenscheinigen Vorwürfen und Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien verurteilt wurden, bleiben im Gefängnis. Darunter ist etwa der russische Journalist Iwan Safronow, der allein wegen seiner Arbeit eingesperrt wurde. Für den kürzlich verhafteten Franzosen Lauren Vinatier wurde die Untersuchungshaft gerade erst bis September verlängert.
Tiefe Enttäuschung in Belarus
Groß ist die Enttäuschung in Belarus, dass neben dem Deutschen niemand der mehr als 1.000 politischen Gefangenen getauscht wurde. Der Belarus-Experte Ingo Petz formuliert es so: "Dass bei dem Gefangenenaustausch anscheinend keine belarusischen politischen Gefangenen berücksichtigt wurden, ist kein gutes Signal an die belarusische Opposition und alle, die unter den monströsen Repressionen in Belarus leiden."
Es sei ein Leiden, über das längst niemand mehr spreche oder berichte. "Die Belarusen, die sich 2020 so eindrucksvoll mit ihrem Willen zur politischen Selbstermächtigung gezeigt haben, sind wieder das, was sie in ihrer Geschichte immer waren: unsichtbar, ignoriert, übergangen - Objekte im Spiel größerer Mächte."
Die belarusische Oppositionspolitikerin Sviatlana Tsikhanouskaya ruft dazu auf, die Bemühungen um die Freilassung der politischen Gefangenen zu verstärken. "Viele werden unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und haben keinen Zugang zu dringend benötigter medizinischer Hilfe und Kontakt zur Außenwelt."
Die deutsche Regierung äußert in ihrer Mitteilung nur dies: "Die Bundesregierung ruft die russische und belarusische Führung zur Freilassung aller anderen zu Unrecht politisch Inhaftierten auf." US-Präsident Joe Biden beteuerte, er werde nicht ruhen, bis alle zu Unrecht inhaftierten US-Amerikaner frei sein.
Das Problem dabei ist jedoch, dass Russlands Präsident Wladimir Putin im Verbund mit Belarus ebenso wie andere diktatorisch und autoritär geführte Staaten immer bereit sein werden, brutal und rücksichtslos ihre Interessen durchzusetzen - der Preis für ein Leben in Freiheit wird immer hoch sein.