Russischer Experte im Staats-TV Kritische Töne - im Sinne des Kremls?
Ein russischer Oberst, der im Staats-TV von einer sich verschlechternden Situation in der Ukraine spricht: Dieser Auftritt sorgte international für Schlagzeilen. Doch möglicherweise war die eigentliche Botschaft eine ganz andere.
Wenn in der Talkshow "60 Minuten" im staatlichen Fernsehen die Meinungen aufeinanderprallen, gilt das Prinzip: je emotionaler, desto besser. Es gehört zum Format, sich gegenseitig ins Wort zu fallen, laut zu werden, den anderen zu übertönen. Weshalb in der Runde immer einer ist, der mit kritischen Aussagen provoziert.
Genau diese Rolle kam Anfang der Woche dem Militärexperten und Oberst a.D. Michail Chodarjonok zu. Er warnte davor, sich mit Blick auf den Fortgang der sogenannten "militärischen Spezialoperation" in der Ukraine von "Informations-Beruhigungspillen" einlullen zu lassen.
Es müsse mit dem Widerstand von einer Million hochmotivierter, mit westlicher Hilfe gut ausgerüsteter ukrainischer Soldaten gerechnet werden, so Chodarjonok: "Und das müssen wir bei unseren operativ-strategischen Überlegungen berücksichtigen. Für uns wird sich die Situation in diesem Zusammenhang klar verschlechtern."
Äußerung verbreitete sich weltweit
Chodarjonoks Sätze gingen in kürzester Zeit via Twitter um die Welt. Von einem seltenen Moment der Wahrheit im russischen Staatsfernsehen war die Rede. Von einem Fanal. Von einer perplexen Moderatorin, die im Ruf steht, eine knallharte Talkmasterin zu sein.
In der Tat wurde Chodarjonok nur selten von ihr unterbrochen. Während die anderen Gäste - anders als sonst - schweigend zuhörten.
Dass dies dem Überraschungsmoment geschuldet war, darf getrost bezweifelt werden. Denn Chodarjonok ist gern gesehener Gast in der Sendung, seine Position ist kein Geheimnis. Schon vor dem Einmarsch hatte er öffentlich gewarnt, dass ein solcher Einsatz lang und blutig werde.
"Echte Kenntnisse"
Chodarjonoks Kompetenz, sagt der Militärexperte und Journalist Valerij Schirajew, stehe außer Frage: "Unter den vielen Pseudoexperten, die dort auftreten werden, ist er einer der wenigen, wenn nicht der Einzige, der über echte Kenntnisse verfügt."
Kenntnisse, aus denen Chodarjonok öffentlich Schlussfolgerungen zieht, die für russische Verhältnisse überraschend pessimistisch klingen. Die aber so formuliert sind, dass sie nicht wie ein Angriff auf die Streitkräfte oder den Kreml verstanden werden müssen, sondern als Denkanstöße und Empfehlungen gewertet werden können.
Sie unterscheiden sich in entscheidenden Nuancen von Äußerungen, für die Kreml-Kritiker auf der Grundlage des russischen Fake-News-Gesetzes juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Und sie werden gebilligt, weil sie in eine Reihe von Äußerungen führender politischer Köpfe passen, die zuletzt Fehler und Schwierigkeiten beim Einsatz eingeräumt haben - ohne dabei aber den langfristigen Erfolg der "Spezialoperation" infrage zu stellen.
Vorbereitung auf neue Phase?
Vieles klingt, als ob die Bevölkerung auf eine neue Phase vorbereitet werden soll. Auf einen Einsatz, der sich hinziehen wird, auf weitere Opfer. Vielleicht auch auf eine Teil-Mobilisierung.
Es brauche auf jeden Fall größere militärische Reserven, meint der Militärbeobachter Schirajew. Das, was gerade in staatlichen Sendern zu sehen sei, "kann man so interpretieren, dass man einen Teil unserer Elite dazu bringen will, große operative Reserven zu schaffen, um das Ende dieser Operation doch noch zu erreichen".
Klarstellung in der nächsten Ausgabe
Dass dies der Fall sein wird, hat - um jedes Missverständnis auszuräumen - nun auch noch mal Chodarjonok selbst klar gestellt - in einer neuen Ausgabe der Talkshow. Alles, was auf der Obersten Kommandoebene getan werde, spreche dafür, so der Militärexperte, dass die ukrainische Seite schon bald unangenehm überrascht werde.