Krieg gegen die Ukraine "Nicht die Erfolge, die Moskau erhofft hat"
Russlands Offensive kommt in der Ukraine nur mühsam voran, sagt die Osteuropa-Expertin Sabine Fischer. Die Kritik von Ultranationalisten daran sei für Putin aber nicht gefährlich. Bei dessen Handeln gehe es auch um die Präsidentschaftswahl 2024.
tagesschau.de: Frau Fischer, wodurch zeichnet sich das Kriegsgeschehen derzeit aus?
Sabine Fischer: Seit zwei bis drei Wochen läuft eine russische Offensive durch verstärkte Luftangriffe, und die russischen Streitkräfte und die Privatarmee Wagner-Gruppe von Jewgenij Prigoschin versuchen, an verschiedenen Punkten im Donbass Geländegewinne zu erzielen. Der bekannteste davon ist Bachmut.
Wir sehen seitdem, dass es für die russischen Streitkräfte nur sehr mühsam voran geht, wenn man überhaupt von Fortschritt sprechen kann. Die lange erwartete und von der ukrainischen Seite gefürchtete Offensive ist da, aber sie bringt nicht die Erfolge, die man sich in Moskau vielleicht erhofft hat.
Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu ihren Themenschwerpunkten gehören die russische Außen- und Sicherheitspolitik und ungelöste Konflikte in der östlichen EU-Nachbarschaft. 2023 erschien ihr Buch "Die chauvinistische Bedrohung: Russlands Kriege und Europas Antworten".
"Russland hat sich in eine Diktatur verwandelt"
tagesschau.de: Russland hat sicherlich erwartet, schon zu Kriegsbeginn schneller in der Ukraine voranzukommen, die Ukraine schneller zu erobern. Jetzt ist deutlich: Diese Ziele sind bislang nicht erreicht worden, ob sie überhaupt erreicht werden, ist fraglich. Trotzdem hat Wladimir Putin offenkundig in der Bevölkerung nicht an Rückhalt verloren. Wie erklären Sie sich das?
Fischer: Es ist sehr schwierig zu messen, wie viel Rückhalt Putin in der russischen Bevölkerung hat. Wir haben einerseits Umfragen, und zwar auch von dem letzten verbliebenen unabhängigen Meinungsforschungsinstitut, dem Levada-Institut in Moskau, die zeigen, dass eine Mehrheit von 60 Prozent bis 70 Prozent derjenigen, die an diesen Umfragen teilnehmen, die sogenannte Spezialoperation in der Ukraine unterstützt.
Gleichzeitig haben wir im Laufe des vergangenen Jahres und im Grunde genommen in den ersten Tagen nach Beginn der Invasion gesehen, wie die ohnehin schon sehr harte russische Autokratie sich in eine Diktatur verwandelt hat. Unter diesen Bedingungen ist es extrem schwierig für die Bevölkerungsteile, die gegen den Krieg sind, diesen Dissens und diesen Widerstand überhaupt noch zu äußern und zu messen, was auf der gesellschaftlichen Ebene passiert. Insofern würde ich immer vorsichtig sein bei solchen Einschätzungen.
Wir müssen davon ausgehen, dass weiterhin eine Mehrheit der russischen Bevölkerung zumindest Putin als russischen Präsidenten unterstützt. Und wir können nicht davon ausgehen, dass sich aus der russischen Gesellschaft heraus in absehbarer Zeit spürbarer und auch wirkungsvoller Widerstand gegen diesen Krieg entwickelt. Aber man sollte trotzdem nicht vergessen, dass sich in den ersten Tagen nach Beginn der Invasion sehr schnell eine Antikriegsbewegung bemerkbar gemacht hat, die dann eben von dieser russischen Diktatur platt gewalzt worden ist.
Kritik, die Putin nutzen kann
tagesschau.de: Man kann möglicherweise auch die vielen Menschen dazurechnen, die nach der Mobilisierung im Herbst das Land verlassen haben. Dissens hören wir wenig aus Russland, und wenn, vor allem aus dem ultranationalistischen Lager. Zuletzt gab es deutliche Differenzen zwischen dem von Ihnen schon erwähnten Jewgenij Prigoschin von der Wagner-Gruppe und der Armeeführung. Wie erklären Sie sich diese Differenzen, die hier ausgetragen werden?
Fischer: Es gibt zwei Formeln, um das zu erklären. Es hat in Russland immer Ultranationalisten gegeben, auch schon 2014/2015 und in den Jahren danach, nach dem eigentlichen Beginn dieses russischen Krieges gegen die Ukraine. Damals, im September 2014, haben sich die Kampfhandlungen verlangsamt und Russland hat auf weitere Gebietseroberungen verzichtet. Man hat die Minsker Vereinbarungen verhandelt, und dagegen sind zum Beispiel auch die Ultranationalisten Sturm gelaufen, weil das überhaupt nicht ihren Vorstellungen von "Neurussland", von der Eroberung der gesamten Südukraine, der Landbrücke zur Krim und so weiter entsprach.
Eine ähnliche Situation haben wir heute. Es gibt eine ultranationalistische Kritik am Kreml, es gibt Kritik an den Streitkräften. Aus meiner Sicht ist diese Kritik für Putin als russischen Präsidenten nicht gefährlich. Er kann sie sogar einsetzen, um dann eigene Schritte zu rechtfertigen, abzufedern. So etwas ist im vergangenen Jahr passiert, als die Teilmobilmachung angekündigt wurde.
Was Prigoschin, die Wagner-Gruppe und das Verhältnis zu den russischen Streitkräften anbelangt, so haben wir hier immer eine Spannung gehabt. Es gibt da ein Konkurrenzverhältnis. Die Vorwürfe, die Prigoschin jetzt gerade gegenüber den Streitkräften und gegenüber dem Oberbefehlshaber der sogenannten Spezialoperationen geäußert hat, nämlich dass die Streitkräfte Wagner nicht ausreichend versorgten, sprechen für mich klar dafür, dass die russische Offensive in großen Schwierigkeiten steckt. Der Druck, den das erzeugt, äußert sich in solchen Wortgefechten und gegenseitigen Vorwürfen.
"Ein für Russland gefährliches Szenario"
tagesschau.de: Es könnte also auch so sein, dass Putin hier mächtige unterschiedliche Gruppen gegeneinander ausspielt?
Fischer: Das ist immer schon ein Teil seines Herrschaftsprinzips gewesen. Das kann in der Zukunft durchaus gefährlich werden. Jetzt haben wir eine weiterhin sehr stabile Machtvertikale in diesem diktatorischen System. An ihrer Spitze befindet sich Putin, der weiterhin das System kontrolliert.
Aber sollte sich seine Position irgendwann destabilisieren, könnten genau diese Akteure, Prigoschin mit seiner Privatarmee oder Ramsan Kadyrow in Tschetschenien, könnten konkurrierende Sicherheitsdienste und möglicherweise auch die Armee, beginnen, um die Macht zu konkurrieren, und zwar auch mit Gewalt. Das ist für die Zukunft Russlands ein sehr gefährliches Szenario. Für die Ukraine würde ein solches gefährliches Szenario wahrscheinlich zunächst einmal Erleichterung bringen, denn es würde von ihr Druck wegnehmen.
"Präsidentschaftswahl 2024 wird schon vorbereitet"
tagesschau.de: Putin hat in seiner Rede an die Nation die ganze Partitur von Mythen zum Krieg gegen die Ukraine bedient. Hat er dabei auch die Präsidentschaftswahl, die für kommendes Jahr angesetzt ist, im Blick?
Fischer: Fast alles, was in den letzten fünf Jahren innenpolitisch gelaufen ist, war auf die Präsidentschaftswahl 2024 ausgerichtet. Sie ist ein zentraler Dreh- und Angelpunkt. Es ist das Ende der zweiten aufeinanderfolgenden Amtszeit Wladimir Putins. Nach der alten russischen Verfassung wäre es ihm verfassungsmäßig nicht mehr gestattet, überhaupt noch anzutreten. Deswegen hat er 2020 eine neue Verfassung verabschieden lassen, in der diese Regelung ausgehebelt worden ist.
Und alle Wahlen, die wir in den letzten Jahren gesehen haben, sind auf die Präsidentschaftswahl 2024 zugeschnitten gewesen. Wir wissen auch aus gut informierten Kreisen, dass die Kreml-Administration jetzt begonnen hat, die Präsidentschaftswahl vorzubereiten. Wahlkampfvorbereitung kann man das nicht mehr nennen, weil in Russland keine freien Wahlen mehr stattfinden. Insofern muss man das definitiv auch in diesem Kontext sehen.
"Probleme stellen Selenskyjs Symbolfunktion nicht in Frage"
tagesschau.de: Schauen wir noch mal in die Ukraine. Wo steht Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Jahr nach Kriegsbeginn? Es gab vor Ausbruch des Krieges deutliche Kritik an seiner Amtsführung, zum Beispiel in Sachen Korruptionsbekämpfung. Sind diese Konflikte mit dem Krieg gänzlich in den Hintergrund getreten?
Fischer: Man muss Ihre Frage in zwei Richtungen beantworten. Man kann in so einer Kriegssituation nicht gut dastehen. Aber wenn man sich die Umfragen anschaut, ist die Unterstützung, die Selenskyj in der Bevölkerung genießt, sehr hoch. Er ist zur Symbolfigur des ukrainischen Widerstands gegen die russische Aggression geworden und erfüllt dadurch eine extrem wichtige Funktion in der Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Angriff.
Das heißt aber natürlich nicht, dass die Probleme, die die Ukraine vorher schon hatte, aus der Welt geschafft sind. Es gab gerade große Probleme mit einem Korruptionsskandal in den Streitkräften und auch in der Regierung. Selenskyj hat durchgegriffen. Er hat, auch mit Blick auf die bevorstehenden Beitrittsverhandlungen mit der EU, die die ukrainische Seite so schnell wie möglich eröffnet sehen will, angekündigt, dass er weiter gegen Korruption vorgehen wird.
Das Thema wird uns weiter begleiten. Das stellt aber seine Funktion und seine starke Symbolposition im Hinblick auf den Krieg und auf die Verteidigung gegen den russischen Angriff nicht in Frage.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de. Für die schriftliche Darstellung wurde das Interview leicht angepasst.