Altersversorgung in der Schweiz Ein klares "Ja" zum Ausbau des Sozialstaates
Von einem "historischen Volksentscheid" ist in der Schweiz die Rede: Zum ersten Mal war eine Forderung nach mehr Sozialstaat bei einer Volksabstimmung erfolgreich. Die Mehrheit stimmte für eine 13. Rentenzahlung.
Großen Jubel gab es bei den Gewerkschaften in der Schweiz nach 58,2 Prozent "Ja"-Stimmen zur Einführung einer 13. Monatsrente für alle Rentnerinnen und Rentner. "Für" war das Motto der Volksinitiative - "ein besseres Leben im Alter". "Das Volk hat die Macht in unserem Land und zeigt es", freut sich Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizer Gewerkschaftsbunds.
"Sehr stolz" sei er auf die Demokratie in der Schweiz - auf die "wundervolle Nachricht" an all jene, die ein Leben lang gearbeitet haben. "Die Bevölkerung hat bewiesen, dass der Sozialpakt in diesem Land noch funktioniert."
Bedürfnis nach stärkerem Staat
Die deutliche "Ja"-Mehrheit zum Vorschlag der Gewerkschaften bedeutet: Die sogenannte "AHV-Rente" - die "erste Säule" der Altersversorgung in der Schweiz und also eine Art Grundrente für alle von derzeit maximal 2.450 Franken - wird auf einen Schlag um 8,3 Prozent erhöht.
Noch vor wenigen Jahren war eine vergleichbare Rentenerhöhungs-Initiative von der Schweizer Bevölkerung klar abgelehnt worden. Doch die Zeiten haben sich geändert: Steigende Preise für Energie, Wohnen und Lebensmittel belasten auch die Menschen in der reichen Schweiz. In dem traditionell wirtschaftsliberalen Land wächst das Bedürfnis nach einem stärkeren Staat.
Bislang dominierte die Wirtschaft
Die Volksabstimmung markiert eine Art Zeitenwende, sagt der Politikwissenschaftler Michael Hermann: "Das ist wirklich ein historischer Entscheid für die Schweiz. Weil in der Schweiz wurde noch nie eine Volksinitiative zum Ausbau des Sozialstaates angenommen. Das ist das erste Mal. Und das wird sich auf das ganze politische Gefüge der Schweiz auswirken."
Bis jetzt sei eigentlich die Wirtschaft immer dominant in der Schweiz gewesen. Die Wirtschaftsverbände konnten eigentlich fast jede Initiative gewinnen mit dem Argument, es sei zu teuer, so Hermann.
Auch die Regierung und das mehrheitlich konservative Parlament waren gegen die Rentenerhöhung. Entsprechend groß ist hier das Bedauern nach dem Volksentscheid. Die Jüngeren würden nun "Zur Kasse gebeten", um die 13. Monatsrente zu finanzieren, so Brigitte Häberli-Koller, Parlamentarierin der Mitte-Partei: "Ihre Kaufkraft wird schwinden, ihre Lohnabgaben werden sich erhöhen, die Preise werden steigen. Das werden wir aushalten müssen."
"Unmut gegenüber wirtschaftlichen Eskapaden"
Doch das "Ja" der Bevölkerung zu höheren Renten ist deutlich: In den französisch- und italienischsprachigen Regionen der Schweiz lag die Zustimmung sogar bei mehr als 70, zum Teil mehr als 80 Prozent. Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass die Schweizerinnen und Schweizer im vergangenen Jahr sehen konnten, wie schnell der Staat der Skandalbank Credit Suisse mit milliardenschweren Garantien zur Seite stand, so der Politikwissenschaftler Urs Bieri: "Es geht auch um Unmut in der Bevölkerung gegenüber wirtschaftlichen Eskapaden."
Wie sehr das Thema Rente die Schweizerinnen und Schweizer bewegt, zeigt auch die mit rund 59 Prozent außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung. Eine zweite Vorlage war bei der Volksabstimmung wie erwartet chancenlos: Mit 75 Prozent "Nein"-Stimmen wurde der Vorschlag der Jungliberalen abgelehnt. Sie wollten nicht die Rente, sondern das Rentenalter erhöhen.