Militärübung nahe Kiew "Zu sterben ist das Schlimmste, was passieren kann"
Nördlich von Kiew trainiert die ukrainische Armee. Generalleutnant Serhij Najew spricht im ARD-Interview über die Bedrohung durch Wagner-Söldner, deutsche Waffenlieferungen und seine Erwartungen an den NATO-Gipfel.
Ein gepanzerter Wagen fährt am Kiewer Meer, dem Stausee nördlich der ukrainischen Hauptstadt, vor. Bewaffnete Soldaten springen aus dem massiven Fahrzeug. Die jungen Männer schauen sich um, laufen zielstrebig auf ihre Positionen. Sie rufen sich kurze Befehle zu, es fallen Schüsse.
Was hier beschrieben wird, ist eine Übung der ukrainischen Streitkräfte. Medien sind eingeladen, weil das Militär ein Interesse daran hat, in der Öffentlichkeit ein Bild der Stärke zu präsentieren. Auch, weil sichtbare Erfolge entlang der Frontlinie bisher ausbleiben.
Ziel der Übung: Eine feindliche Sabotage-Aufklärungsgruppe soll aufgehalten werden. Auf dem Land und auf dem Wasser. Die ukrainischen Soldaten fahren auf Booten über den Stausee. Auch andere Armeen führen solche Übungen durch. Aber die Soldaten hier müssen tatsächlich an der Front kämpfen. Die Bedrohung ist real.
Militärübung der ukrainischen Armee auf dem Land und zu Wasser.
Bedrohung durch Wagner-Söldner im Norden?
Erst am Freitag ordnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an, den Norden des Landes verstärkt zu schützen. Einer der Gründe ist die mögliche Niederlassung russischer Wagner-Söldner in Belarus. Für den Nordabschnitt zuständig ist Generalleutnant Serhij Najew. Najew ist einer der ranghöchsten Militärs der Ukraine. Bei der Übung am Stausee ist Najew persönlich anwesend. Im Interview mit der ARD sagt der Generalleutnant:
Mit Blick auf die aktuelle Bedrohungslage erfüllen wir unsere Aufgabe und die Kräfte sind ausreichend. Aber um das auch bei zunehmender Bedrohung leisten zu können, ist eine gewisse Stärkung der Kräfte und Mittel notwendig.
Nach Aussage von Najew gebe es derzeit keine aufgezeichneten Bewegungen der Wagner-Gruppe. "Aber wir haben das Worst-Case-Szenario berechnet und bereiten uns unter solchen Bedingungen darauf vor." Das größte Gefahrenpotenzial sieht Najew gegenwärtig "in der nuklearen Erpressung" durch Russland, unter anderem rund um das besetzte Kernkraftwerk Saporischschja.
Generalleutnant Serhij Najew ist bei der Übung am Stausee persönlich anwesend.
Minenfelder sind problematisch
Angesprochen auf den Druck westlicher Hauptstädte auf die hohen Erwartungen der westlichen Partner in Bezug auf die Gegenoffensive, sagt der ukrainische Generalleutnant: "Ich persönlich spüre davon nichts. Das ist der Bereich der Politik. Ich beschäftige mich mit militärischen Angelegenheiten. Wir wollen so schnell wie möglich gewinnen."
Doch nach schnellen militärischen Erfolgen sieht es aktuell nicht aus. Entlang der Front haben sich die russischen Soldaten auf ihren Positionen tief eingegraben, die zahlreichen Minenfelder können die ukrainischen Soldaten nur mit Mühe überwinden. Sie stehen zudem unter ständigem Artilleriebeschuss.
Langsamer Fortschritt und hohe Verluste
Der ukrainische Oberbefehlshaber Saluschnyj betont gegenüber der "Washington Post", dass seine Soldaten dennoch jeden Tag einige hundert Meter vorankommen. Ein langsamer Fortschritt mit hohen Verlusten. Für schnellere militärische Erfolge, so Saluschnyj, brauche es mehr von allem.
Najew zeigt sich dankbar für die westliche Unterstützung und lobt dabei namentlich Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius. Mit Blick auf die laufende Gegenoffensive schließt er sich Saluschnyj an. Es brauche seiner Einschätzung nach weitere Lieferungen - auch aus Deutschland: "Natürlich Panzer, natürlich Flugabwehrsysteme, über die Deutschland verfügt. Und natürlich Artilleriemunition und Raketen. Wir sind für jede Hilfe dankbar und ich möchte unterstreichen, dass wir sie ausschließlich zu dem Zweck einsetzen, die territoriale Integrität der Ukraine zu verteidigen."
Hohe Erwartungen an den NATO-Gipfel
An den NATO-Gipfel Mitte Juli in Vilnius hat der ukrainische Generalleutnant hohe Erwartungen. Er setzt auf "ein klares Signal mit konkreten Daten, wann die Ukraine vollwertiges Mitglied des Verteidigungsbündnisses werde."
"Zu sterben ist das Schlimmste, was passieren kann."
Während des Interviews mit dem Generalleutnant sind gewaltige Explosionen zu hören. Es sind Minen, die eigens für das Training gelegt wurden. Doch trotz echter Minen "ist der Unterschied gewaltig", sagt der Soldat Andrij Telytschko. Der Familienvater hat noch vor einigen Monaten im Osten der Ukraine gekämpft, wurde verwundet und ist jetzt für die Sicherung des Nordens zuständig. "Im Kampf ist alles viel unmittelbarer. Es geht mehr um den Feind. Hier geht es um die Ausbildung von Fähigkeiten, auf die wir später an der Front zurückgreifen können."
Soldat Andrij Telytschko im Gespräch: "Im Kampf ist alles viel unmittelbarer".
Was ihm an der Front am meisten Angst macht? "Zu sterben ist das Schlimmste, was passieren kann", sagt Andrij. Und doch würde er sofort wieder an die Front zurückkehren. "Ich habe eine Frau, eine Tochter. Ich muss etwas tun, um meine Eltern, Verwandten und Lieben zu schützen, damit zukünftige Generationen nicht das erleben müssen, was wir gerade sehen."