Nach Appell an Russland "Transnistrien fühlt sich unter Druck"
Russland plant nach Einschätzung der Osteuropa-Expertin Douglas derzeit keine Annexion Transnistriens. Den Hilferuf der abtrünnigen Teilrepublik an Moskau wertet sie als Reaktion auf jüngste Schritte der Republik Moldau.
tagesschau24: Die Meldung ließ politische Beobachter aufhorchen: Das von der Republik Moldau abtrünnige Transnistrien hat Russland um Schutz gebeten. Was bedeutet das? Welcher Schutz ist gemeint?
Nadja Douglas: Transnistrien bittet nicht zum ersten Mal um Schutz. In den vergangenen zwei Jahren, insbesondere seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, hat sich das De-facto-Regime wiederholt auch an die internationalen Partner im 5+2-Format gewandt. Das ist das Format zur Lösung des Transnistrien-Konflikts, immer wieder mit dem Appell, Sicherheitsgarantien und Friedensgarantien für die Region zu erhalten.
Tatsächlich fühlt sich Transnistrien unter Druck, insbesondere seit die Republik Moldau ihren Weg Richtung EU-Beitritt eingeschlagen hat. Seitdem das 5+2-Format zur Konfliktbeilegung de facto suspendiert ist, wird in der Republik Moldau selbst immer offener über eine mögliche Reintegration Transnistriens gesprochen. Es geht da auch nicht mehr so sehr um Zugeständnisse, die an die Region gemacht werden sollen. Im vergangenen Jahr wurde ein Separatistengesetz verabschiedet, das erstmals sogenannte separatistische Bestrebungen unter Strafe stellt.
Anfang des Jahres wurde ein neues Zollregime eingeführt, das transnistrische Unternehmer in Schwierigkeiten bringt. Das hat enorme Empörung hervorgerufen. Insgesamt wäre ich vorsichtig, den Kongress gestern und die Symbolik, die zwar ganz klar auch mit von Russland gesteuert wird, 1:1 zu vergleichen und Parallelen zu ziehen zu der Situation im Donbas Anfang 2022.
"Bezweifle, dass es zu einer Annexion kommen wird"
tagesschau24: Auf der anderen Seite hat Wladimir Putin in seiner Rede zur Lage der Nation kein Wort zu Transnistrien gesagt. Wie muss man das denn bewerten?
Douglas: Ich denke, dass Transnistrien diese Entscheidungen nicht selbstständig getroffen hat, ohne Konsultation Russlands. Aber ich denke auch, dass es trotzdem eine Symbolik und eine Weise des transnistrischen Regimes ist, seinerseits Druck auf Moldau auszuüben. Und das natürlich mit der Unterstützung Russlands. Ich bezweifele aber, dass es jetzt zu einer Annexion kommen wird oder ein Krieg gegen die Republik Moldau droht. Insofern hat mich nicht gewundert, dass Präsident Putin Transnistrien nicht erwähnt hat.
Dr. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin. Dort forscht sie unter anderem zur Vertrauensbildung und Konfliktbeilegung in Transnistrien.
"Russland ist in der Ukraine mehr als eingespannt"
tagesschau24: Wäre denn ein Eingreifen in Transnistrien überhaupt wirtschaftlich und militärisch zu rechtfertigen?
Douglas: Russland hat in der Vergangenheit immer wieder alles mögliche gerechtfertigt. Ich muss ehrlich sagen, auch ich habe mich in meinen Einschätzungen, was die russischen Intentionen betrifft, in der Vergangenheit leider auch schon häufiger geirrt, Aber ich würde es als sehr unwahrscheinlich erachten, denn Russland ist in der Ukraine mehr als eingespannt. Wirtschaftlich gibt es dafür keine Veranlassung. Transnistrien ist ein Posten im Budget des russischen Staatshaushalts, denn das De-facto-Regime wird dadurch unterhalten, dass Russland dort die Renten zahlt, dass die Kosten für Gaslieferungen im Grunde von Russland übernommen werden.
Strategisch sieht es vielleicht anders aus. Es wurde am Anfang des Ukraine-Krieges von einem investigativen Portal in Moldau bekannt gemacht, dass es zunächst vom Kreml aus Pläne gab, eine zweite Front im Westen der Ukraine zu eröffnen, was dann aber wieder verworfen wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese strategischen Überlegungen jetzt wieder relevant werden. Die Überlegung war damals, über Odessa eine Landbrücke zu Transnistrien zu schaffen. Aber an dem Punkt sind wir gerade nicht.
tagesschau24: Das ist ja auch die Befürchtung vieler westlicher Beobachter.
Douglas: Das ist eine Befürchtung, die in den vergangenen zwei Jahren immer im Raum stand. Aber momentan hat Russland mit Transnistrien keine gemeinsame Grenze. Also sieht die Situation dort anders aus als beispielsweise im Donbas Anfang 2022. Deswegen kann ich mir das momentan nicht vorstellen.
"Orientierung an Russland immer noch sehr ausgeprägt"
tagesschau24: Warum haben sich die Separatisten gerade jetzt zu Wort gemeldet?
Douglas: Momentan herrscht dort das Gefühl vor, dass durch das im Januar dieses Jahres eingeführte Zollsystem das Fass zum Überlaufen gebracht worden ist. Man muss auch sehen: Transnistrien ist in einer sehr verzwickten Lage. Es befindet sich eingezwängt zwischen der Republik Moldau und der Ukraine, die beide einen EU-Beitritt anstreben. Das ist undenkbar für diese Region, in der sich die Bevölkerung größtenteils kulturell eher an Russland orientiert.
90 Prozent der transnistrischen Bevölkerung verfügen zwar mittlerweile über eine moldauische Staatsangehörigkeit. Aber dennoch ist die Orientierung nach Russland immer noch sehr ausgeprägt und man sieht Russland trotz allem immer noch als Schutzmacht. Deswegen auch dieser Appell an Russland.
Aber im Gegensatz zu den Teilrepubliken in der Ukraine oder den De- facto-Regimes in Südossetien und Abchasien hat sich Transnistrien seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine eher neutral verhalten. Und ich glaube, auch die transnistrischen Eliten und das De-facto-Regime dort sehen in Russland nicht mehr einen so verlässlichen und gut einzuschätzenden Partner.
Das Gespräch führte Kirsten Gerhard, tagesschau24