EU-Ratspräsidentschaft "Historische Herausforderung bestehen"
Tschechien übernimmt heute für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Außenminister Lipavsky erläutert im ARD-Interview, welches Thema für sein Land ganz oben auf der Agenda steht - und welche Rolle Deutschland dabei spielt.
ARD: Europa und die Welt stecken gerade in einem Bündel von Problemen, die allesamt unlösbar scheinen. Hätten Sie die EU-Ratspräsidentschaft nicht lieber zu einem anderen Zeitpunkt übernommen?
Jan Lipavsky: Die Probleme sind lösbar und es liegt an uns, an den Lösungen zu arbeiten. Tschechien tritt an mit einer klaren Vision für Europa. Vor uns stehen Herausforderungen, die die Bereiche Sicherheit und Wirtschaft, aber auch unsere moralische Haltung betreffen. Und wir sind bereit, mittels unserer Ratspräsidentschaft bei der Suche nach den Lösungen zu helfen.
Jan Lipavsky ist Außenminister der Tschechischen Republik. Dem Landesparlament gehört er als Abgeordneter der Piratenpartei seit 2017 an.
Wider das "Recht des Stärkeren"
ARD: Wenn Sie einen Punkt herausheben sollten - was ist das Wichtigste in den kommenden sechs Monaten?
Lipavsky: Leider nichts anderes als der Krieg in der Ukraine. Der muss beendet werden. Die Ukrainer kämpfen für die Freiheit, für ihren Staat, dafür, dass sie Teil der europäischen Gemeinschaft sein können. Es ist unsere moralische Verpflichtung, sie zu unterstützen. Das Gegenteil würde bedeuten, dass in der Welt wieder das Recht des Stärkeren gilt. Dass die Verletzung der UN-Charta, die den Angriffskrieg verbietet, legitimiert wird. Die tschechische EU-Ratspräsidentschaft will dazu beitragen, das Miteinander in der EU zu stärken, damit wir gemeinsam vor dieser historischen Herausforderung bestehen.
ARD: Die von der Ukraine angestrebte EU-Mitgliedschaft - wie wichtig ist sie?
Lipavsky: Die Frage der EU-Erweiterung ist eine politische und zugleich eine praktische Frage. Die Ukrainer kämpfen heute buchstäblich auf Leben und Tod, um Teil des Westens, Teil der europäischen Zivilisation sein zu dürfen. Sie wollen nicht aus Moskau regiert werden. Dafür kämpfen sie. Deswegen ist es gut, dass die europäischen Regierungschefs sich darauf geeinigt haben, dass die Ukraine einen Kandidatenstatus bekommt.
"Die Fundamente der EU stärken"
ARD: Mit der Karlsbrücke ist eine Brücke das Wahrzeichen von Prag. Wollen auch die Tschechen in der Ratspräsidentschaft Brückenbauer sein? Hat Tschechien durch seine Größe und Lage vielleicht sogar eine besondere Fähigkeit, Westen und Osten der EU an einen Tisch zu bringen?
Lipavsky: Die Karlsbrücke besteht seit sieben Jahrhunderten; und das, weil sie sich auf starke Pfeiler und auf feste Fundamente stützt. Die tschechische Ratspräsidentschaft wird sich daher dafür einsetzen, auch die Pfeiler und Fundamente zu stärken, auf denen die europäische Gemeinschaft, unsere Gesellschaft und unsere Zivilisation basieren. Das sind Prinzipien wie das Verbot von Angriffskriegen und das humanitäre Recht, die dazu da sind, um Bestialität und Massenmord in Europa zu verhindern. Auf diesen Prinzipien können wir dann ein größeres Gebäude errichten. Wenn wir aber eine Brücke nur um der Brücke Willen bauen, dann wird sie bald zusammenstürzen, so ein Gebilde kann nicht funktionieren. Heute geht es wirklich um die Prinzipien.
ARD: Und diese Prinzipien sprechen Sie auch an gegenüber Staaten wie Ungarn und Polen, wenn es da Probleme gibt?
Lipavsky: Polen hat in der Frage des Rechtsstaats erhebliche Fortschritte gemacht. Es gab Zugeständnisse von Seiten der polnischen Regierung und auf der anderen Seite hat auch die EU-Kommission in einigen Punkten ihre Haltung revidiert. Die Lage hat sich deutlich gebessert. Und auch in der Visegrad-Gruppe hat sich die Atmosphäre verändert. Es gibt nicht mehr das polnisch-ungarische Tandem, nicht in Fragen des Rechtsstaates und nicht bei der Politik gegenüber Russland. Aber zugleich muss man sagen: Ungarn, egal welche Rolle es spielt, ist ein vollgültiges Mitglied der EU. Ungarn hat die Sanktionspakete unterstützt und ist auch aktives Mitglied der Nato - wir sollten also die Differenzen nicht größer machen, als sie in Wirklichkeit sind.
"Gründe für die Inflation erläutern"
ARD: Die Inflation in Tschechien liegt bei 16 Prozent. Für viele Verbraucher sind Gas- und Strompreise explodiert. Sehen Sie die Gefahr, dass sich unter diesem Druck die Menschen von der bislang breiten Unterstützung der Ukraine abwenden? Wie lange kann die Regierung die Bevölkerung noch mitnehmen?
Lipavsky: Die hohe Inflation hat einen einzigen Verursacher, und das ist Wladimir Putin, der mit den Energielieferungen nach Europa manipuliert, der den schrecklichsten Krieg auf dem europäischen Kontinent seit Ende des Zweiten Weltkriegs entfesselt hat, der Massaker verüben und ganze Städte vernichten lässt, der eine Lebensmittelkrise hervorruft und die ganze Welt in Probleme stürzt. Das muss so gesagt werden und das müssen wir auch den Bürgern erklären. Wenn wir die Ukraine nicht unterstützen, dann wird uns Russland bald diktieren, wie wir zu leben haben, und das dürfen wir nicht hinnehmen. Wir dürfen nicht unsere Werte aufgeben und deshalb fordere ich auch die anderen europäischen Staaten auf, sich aktiv für die maximal mögliche Unterstützung der Ukraine einzusetzen. Denn das ist im Interesse des gesamten europäischen Kontinents.
ARD: Deutschland ist das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land der EU. Übernimmt es auch in ausreichendem Maße politische Führung und Verantwortung oder wünschen sich die europäischen Nachbarn mehr Engagement?
Lipavsky: Ich würde mir wünschen, dass Deutschland aktiver ist, dass es die Kapazitäten, die es hat, auch nutzt - an Personal, Technologie, Know-how, Finanzen. Dass dieses große Kapital und Potential für die Unterstützung der Ukraine zur Verfügung steht. Für die europäische Zukunft der Ukraine, für humanitäre Hilfe, aber auch für die militärische Unterstützung, denn der Krieg wird nun mal leider mit Waffen geführt. Und die Alternative dazu ist, dass die Ukrainer sich Russland unterwerfen, und das kann nicht in unserem Interesse sein. Es kann nicht unser Wunsch sein, dass Polen und die Slowakei die Nachbarn von Russland werden.
"Deutschland kann mehr tun"
ARD: Das heißt, dass Deutschland bislang aus Ihrer Sicht noch nicht genug getan hat?
Lipavsky: Deutschland könnte mehr geben. Es tut viel, aber es könnte mehr tun. Und vor allem sollten wir mehr gemeinsam tun. Wir sollten weitere Lösungen für die Energiekrise suchen und weitere Wege, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Denn leider - ohne Waffen kann sich die Ukraine nicht zur Wehr setzen.
ARD: Es gibt die Diskussion: Sollte man mit Putin reden oder nicht? Welche Haltung vertritt Tschechien - und werden Sie jetzt demnächst als Vorsitzender des Rates der Europäischen Union mit Putin telefonieren?
Lipavsky: Was sollen wir denn mit Putin besprechen? Was sollte denn das Ergebnis solcher Gespräche sein? Das führt doch zu gar nichts. Und vor allem dürfen Gespräche mit Putin keine Schwächung sein für unsere Unterstützung der Ukraine und des NATO-Ostflügels.
Das Gespräch führte Danko Handrick, ARD-Studio Prag