Todesschüsse am Eisernen Vorhang "Der Wille zur Aufklärung ist nicht stark"
Bisher sind die politischen Befehlsgeber der Todesschüsse am Eisernen Vorhang in der damaligen Tschechoslowakei unbescholten davongekommen. Nun steht zum ersten Mal ein kommunistischer Ex-Minister vor Gericht.
Er ist der erste hochrangige Vertreter der kommunistischen Tschechoslowakei, der sich für die Morde am Eisernen Vorhang vor einem tschechischen Gericht verantworten muss: Vratislav Vajnar war von 1983 bis 1988 Innenminister. Während seiner Amtszeit starben acht Menschen an der Grenze, darunter Hartmut Tautz aus Magdeburg.
Da der 18-Jährige in der DDR nicht studieren durfte, versuchte er über Bratislava nach Österreich zu fliehen. "Er war noch 22 Meter von der Grenze entfernt, als er niedergerissen wurde. (…) Und dann haben die Hunde ihn so schwer verletzt, dass er an den Folgen starb, weil man ihn anderthalb Stunden liegengelassen hat und nichts getan hat", so beschreiben es Tautz‘ Schwester und der Staatsanwalt aus dem oberbayrischen Weiden in dem Dokumentarfilm "Die vergessene Grenze", eine deutsch-tschechisch-österreichische Koproduktion.
Seit einer Anzeige der "Plattform für das Gedenken und Gewissen Europas" ermittelte ein deutsch-tschechisches Team in mehreren besonders tragischen Fällen, sagt der Publizist Ludek Navara. Seine Recherchen für eine tschechische Fernsehserie über Verbrechen am Eisernen Vorhang hatten erste Ermittlungen ausgelöst.
"Der westdeutsche Rentner Johann Dick aus Amberg wurde beim Wandern auf deutschem Gebiet erschossen. Er wurde dann im Sterben auf tschechoslowakisches Territorium gezogen", erzählt Navara. Er erinnert auch an den Fall von Frantisek Faktor: "Ein junger Mann aus Tschechien, der auf österreichischem Boden angeschossen und am Waldrand sterben gelassen wurde."
Anklage wegen drei Todesfällen
Die aktuelle Anklage betrifft drei Todesfälle und drei Fälle von Verletzungen. Insgesamt sind mindestens 280 Menschen nachweislich bei Fluchtversuchen getötet worden, darunter 33 Deutsche. In der DDR hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass die Tschechen nicht schießen, so der Historiker Prokop Tomek. "Etwa 1000 Menschen wählten jedes Jahr den Weg über die grüne Grenze der Tschechoslowakei, besonders oft Bürger aus Ostdeutschland. Denn sie vermuteten, dass sie hier besser durchkommen würden."
Ex-Innenminister Vajnar wird Amtsmissbrauch vorgeworfen. Er hätte versuchen müssen, das Grenzregime zu ändern, erläutert Staatsanwalt Tomáš Jarolímek. Denn seit 1976 galt auch in der CSSR der Zivilpakt der Vereinten Nationen. Dieser sichert jedem das Recht zu, sich frei über Grenzen hinweg zu bewegen. Dennoch dauerte es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fast 30 Jahre, bevor die politisch Verantwortlichen in den Fokus rückten.
"Die Ermittlungen wurden wegen des Fundes neuer Dokumente aufgenommen", so Staatsanwalt Jarolímek. "Diese beweisen, dass die Beschuldigten über die Schüsse an den Grenzen informiert waren. Gleichzeitig belegen sie, dass sie bestimmt haben, welche Gesetze angewendet werden."
Ursprünglich Ermittlungen gegen drei Politiker
Ursprünglich wurde nicht nur gegen Vajnar ermittelt, sondern auch gegen den damaligen KP-Chef Miloš Jakeš sowie den ehemaligen Premier Lubomir Štrougal. Doch beide sind inzwischen verstorben. Andere Verfahren wurden eingestellt - etwa wegen Demenz der Beschuldigten. Aus diesem Grund stand auch der Prozess gegen den Ex-Innenminister auf der Kippe. Das tschechische Verfassungsgericht hatte allerdings Zweifel an der Unabhängigkeit seiner Gutachter und erklärte Vajnar für verhandlungsfähig. Zum Prozessauftakt war er nicht anwesend. Seine Verteidigerin erklärte, dass sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtert habe. Er ließ erklären, er habe von den Vorfällen an der Grenze nichts gewusst.
Bisher seien in Tschechien wegen der Verbrechen am Eisernen Vorhang lediglich vier einfache Grenzschutzbeamte verurteilt worden, erklärt der Historiker Navara. "Erst als sich zeigte, dass Deutsche unter den Opfern sind, und als der deutsche Staatsanwalt aktiv wurde, entstand so ein Druck, dass sich auch Tschechien ernsthaft damit beschäftigte. Dabei ist die Justiz ein Spiegel der Gesellschaft. Der Wille zur Aufklärung ist hier nach wie vor nicht besonders stark."