Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Tausende Türken zu Unrecht verurteilt
Weil sie eine Verschlüsselungs-App benutzt haben sollen, wurden Tausende Türken der Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe bezichtigt und von türkischen Gerichten verurteilt. Zu Unrecht, sagt nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Im Januar, bei der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, appellierte einer der Anwälte an die Richter: "Ihr Gericht hat oft gesagt, dass Gerechtigkeit nicht nur hergestellt werden muss, sondern dass man auch sehen muss, dass Gerechtigkeit hergestellt wurde."
Tatsächlich hat der EGMR jetzt für viele türkische Verurteilte etwas Gerechtigkeit hergestellt. So geht es nicht, sagte die Große Kammer, das oberste Richtergremium: Nur weil jemand die Messenger-App namens ByLock (Anmerkung der Red.: App zum Senden verschlüsselter Nachrichten) benutzt haben soll, könne man ihn nicht als Anhänger der verbotenen Gülen-Organisation verurteilen.
Verurteilung wegen angeblicher ByLock-App-Nutzung
Rund 8.500 türkische Klagen liegen aktuell beim Straßburger Gerichtshof, die allein diese App betreffen. Eine dieser Klagen hat der Gerichtshof jetzt herausgegriffen und hat sie beispielhaft entschieden. Es geht um einen türkischen Lehrer, der 2016 nach dem Putschversuch festgenommen wurde und 2017 als angebliches Gülen-Mitglied zu gut sechs Jahren Haft verurteilt worden war.
Wesentlicher Grund für die Verurteilung war, dass er die ByLock-App benutzt haben soll. Aber sein Anwalt sagt: "Mein Mandant bestreitet bis heute, dass er die App jemals benutzt hat."
Kein Einblick in die Unterlagen
Trotzdem gab ihm kein türkisches Gericht, bis hin zum türkischen Verfassungsgericht, recht. Und das, obwohl der Mann in all den Jahren niemals Einblick in die Unterlagen bekam, die ihn angeblich belasteten. Die Staatsanwaltschaft hatte die vermeintlichen Beweise, die sie wohl vom türkischen Geheimdienst bekommen hatte, nicht vorlegen müssen.
"Der einzige Weg, wie sich mein Mandant hätte verteidigen können, ist, diese Daten überhaupt mal sehen zu dürfen", erklärt sein Anwalt. Das ist jetzt auch der Grund, warum der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die türkischen Gerichte sehr deutlich rügt: Strafverfahren dürften so nicht ablaufen. Ein Angeklagter müsse sich verteidigen können, sonst sei das Verfahren unfair und verletze die Europäische Menschenrechtskonvention.
EGMR: Nicht pauschaler Beweis für Terrorismus
Dabei äußert der Gerichtshof durchaus Verständnis für die Verhängung des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch 2016. Trotzdem hätten die Gerichte nicht einfach von der Nutzung der App darauf schließen dürfen, dass jemand ein Terrorist sei.
Und das Urteil, das fast 200 Seiten stark ist, endet mit einem deutlichen Hinweis: Die Türkei müsse diese systemischen Probleme angehen, dürfe also nicht mehr die ByLock-App als pauschalen Beweis für Terrorismus ansehen.
Eine finanzielle Entschädigung, die sonst häufig zugesprochen wird, wird der Lehrer aber nicht erhalten. Es würde in diesem Fall ausreichen, dass der Mann recht bekommt, entschied die Mehrheit der Richter.