Bürgermeister von Mariupol Erst Annexion, dann Mobilmachung
Seit Mai ist die ukrainische Hafenstadt Mariupol in der Oblast Donezk russisch besetzt. Im Interview mit tagesschau.de spricht Bürgermeister Bojtschenko über die Folgen des Scheinreferendums für die verbliebenen Bürger.
tagesschau.de: Herr Bojtschenko, die Einwohnerzahl von Mariupol lag vor Beginn der russischen Invasion bei mehr als 440.000. Wissen Sie, wie viele Einwohner sich aktuell noch in Ihrer Stadt befinden?
Wadym Bojtschenko: Wir wissen es sehr genau. Über das Mobilfunknetz können wir nachvollziehen, wie viele Menschen sich heute in Mariupol aufhalten. Es sind mehr als 120.000. Und mehr als 200.000 Menschen befinden sich derzeit auf dem Gebiet, das von der Ukraine kontrolliert wird. Russland hat 50 Prozent unserer Stadt vollständig zerstört, die russische Armee hat sehr viele Menschen getötet.
tagesschau.de: Auf Satellitenaufnahmen sind Massengräber zu erkennen. Die genaue Zahl der Opfer lässt sich nicht unabhängig feststellen, weil Mariupol von Russland besetzt ist. Als Folge des Scheinreferendums droht jetzt sogar die Annexion.
Bojtschenko: Mariupol war, ist und bleibt eine ukrainische Stadt - daran wird auch ein Scheinreferendum nichts ändern. Ein Referendum ist ein Instrument der direkten Demokratie. Von welcher Demokratie kann die Rede sein, wenn die Hälfte der Stadt gar nicht mehr existiert und nur noch 20 Prozent der Bevölkerung dort gefangen sind, überwiegend Rentner?
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
tagesschau.de: Das Verfahren gilt als völkerrechtswidrig und wird international nicht anerkannt. Russland hält aber daran fest. Was wird sich jetzt ändern?
Bojtschenko: Aus Sicht der Ukraine und der ukrainischen Gesetzgebung ändert sich nichts. Unsere Pläne bleiben wie sie sind. Unsere Regierung und unsere Armee arbeiten daran, den Süden unseres Landes zu befreien - und damit auch das ukrainische Mariupol. Russland hat Angst, dass in nächster Zeit bestimmte Operationen zur Befreiung durchgeführt werden. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr dazu sagen, aber: Die Geschwindigkeit, in der dieses Scheinreferendum durchgeführt wurde, hat sicherlich mit dieser Angst zu tun.
tagesschau.de: In den besetzten Gebieten leben Hunderttausende Ukrainer. Welche Folgen kommen nach dem Scheinreferendum auf sie zu?
Bojtschenko: Es bringt Männer im wehrfähigen Alter, zwischen 18 und 65, in Gefahr. Diese Menschen sind heute gefährdet und werden mobilisiert. Und ich bin mir sicher, dass sich Russland ausschließlich darauf vorbereitet.
Wadym Bojtschenko wurde 2015 zum Bürgermeister von Mariupol gewählt und bei der Wahl 2020 im Amt bestätigt. Nachdem Mariupol über Monate heftig umkämpft war, steht die ukrainische Hafenstadt seit Mai 2022 unter russischer Besatzung.
tagesschau.de: Wir hören von Männern, die aus diesem Grund versuchen, die besetzten Gebiete zu verlassen. Was ist Ihnen aus Mariupol bekannt?
Bojtschenko: Wir sehen anhand der Statistiken, dass noch vor einer Woche hundert Menschen täglich aus den besetzten Gebieten gekommen sind. Gestern waren es lediglich acht Personen. Das zeigt, dass sie die Stadt abgeriegelt haben und niemanden aus der Stadt rauslassen wollen. Und es ist klar, dass sie auf diese sogenannte rechtliche Entscheidung warten, um mit der Mobilmachung zu beginnen. Sie haben die Absicht, diese Männer einzuziehen. Diese Männer sind heute in Gefahr und müssen die dringende Entscheidung treffen und in die Ukraine ausreisen.
tagesschau.de: Wann werden Sie nach Mariupol zurückkehren können?
Bojtschenko: Auf Grundlage der Gespräche, die wir heute mit unseren ukrainischen Streitkräften führen, rechnen wir mit einer Rückkehr im März 2023.
tagesschau.de: Herr Bürgermeister, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Vassili Golod, WDR, zzt. in Kiew