Krieg in der Ukraine Warum Russland massiv Awdijiwka angreift
Awdijiwka ist seit neun Jahren Frontstadt, und wieder versuchen russische Truppen, die Stadt einzunehmen - offenbar mit schweren Verlusten. Was sagen die Kämpfe über Russlands Kriegsführung aus?
Bei gutem Wetter können die Menschen in Awdijiwka bis nach Donezk schauen. So nah liegt die einst 30.000 Einwohner-Stadt an den von Russland ab 2014 besetzten Gebieten in der Ostukraine.
Awdijiwka war einmal ein Vorort von Donezk. Viele Menschen aus dem kleinen Ort arbeiteten vor Kriegsbeginn 2014 im reichen Donezk und besuchten abends die Theater und Diskotheken der Stadt. Umgekehrt fuhren die Donezker am Wochenende nach Awdijiwka, um ein paar Stunden außerhalb der Großstadt zu genießen.
Angriffe offenbar erfolglos
Dieses Leben aber gehört schon lange der Vergangenheit an. Seit neun Jahren ist Awdijiwka Frontstadt. Immer wieder haben russische Truppen oder von ihnen unterstützte sogenannte Separatisten versucht, den Ort einzunehmen. Gelungen ist es ihnen nie.
Umso verwunderlich mag es vielen erscheinen, dass die russischen Truppen in der vergangenen Wochen erneut versucht haben, Awdijiwka mit massiven Angriffen von Norden und Süden einzuschließen.
Ein Angriff, der sich bisher eher erfolglos zu sein scheint. Massiv sollen die Verluste auf russischer Seite sein. Auf Videos, die im Netz kursieren, sind russische Panzerkolonnen zu sehen, die auf freiem Feld unter ukrainischen Beschuss geraten oder über wackelige Brückenkonstruktionen ins Wasser stürzen.
Manch einer vergleicht die missglückten Angriffe mit den Fehlern der Vergangenheit bei Wuhledar oder Kiew.
Die langen Kämpfe in der Region haben sehr starke Schäden an den Häusern in Awdijiwka hinterlassen - wie hier an diesem Wohnblock.
Große symbolische Bedeutung
Die russischen Truppen könnten bis zu einem Drittel der dort eingesetzten Kräfte bereits verloren haben, sagt der ehemalige NATO-General Erhard Bühler im MDR-Podcast "Was tun, Herr General". Eine große strategische Bedeutung spricht er Awdijiwka eher nicht zu. Es handele sich bei den massiven Angriffen eher um einen Entlastungsangriff für die Truppen an der Südfront, um die Ukrainer im Osten zu binden.
Der Sicherheitsexperte Carlo Masala weist zudem auf die symbolische Bedeutung der Stadt hin. Vermutlich hätten die russischen Kräfte auf Schwachstellen in der ukrainischen Verteidigung bei Awdijiwka gesetzt.
Russland kann immer noch Reserven mobilisieren
Die Angriffe auf die Stadt bieten auch eine Möglichkeit, die Situation der russischen Streitkräfte einschätzen zu können. So zeigten sie, dass die Qualität der russischen Kriegsführung und das zur Verfügung stehende Material nicht ausreichten, um ukrainische Verteidigungslinien effektiv zu durchbrechen, meint der amerikanische Militäranalyst Michael Kofman. Ohne eine weitere Mobilisierung sei Russland demnach nicht in der Lage, signifikante Offensivoperationen durchzuführen, sagt er in dem Podcast "Russia Contingency".
Andererseits dürfe man Russland nicht unterschätzen, meint Kofman. Denn trotz aller Verluste und Fehleinschätzungen, zeigten die Kämpfe um Awdijiwka, dass Russland immer noch in der Lage sei, Reserven zu mobilisieren. "Die Ukraine muss den Druck aufrecht erhalten", schlussfolgert Kofman.
Bislang konnte die ukrainische Armee die jüngsten russischen Vorstöße auf Awdijiwka zurückschlagen. Doch Russlands Überlegenheit in Sachen Material bleibt eine große Sorge der Ukrainer.
Für die verbliebenen Zivilisten die Hölle
Dieser Einschätzung schließt sich auch Masala an. Entsprechend wichtig sei weitere kontinuierliche Militärhilfe aus dem Westen.
Die Ukrainer müssten die russischen Truppen auch im Winter "in Bewegung halten, um zu verhindern, dass Gegenangriffe erfolgreich sein können, auch wenn sie auf kleinerem Level passieren werden", sagt Masala. "Der Materialverschleiß im Sinne von Zerstörung russischen Materials muss fortgeführt werden, um in einer möglichen Offensive im Frühjahr in einer besseren Position zu sein."
Während sich die Angriffe auf Awdijiwka bisher für Russland zu einem Fiasko entwickelt haben, gleicht das Leben der Zivilisten in dem Ort der Hölle. Etwa 1.000 Menschen sollen noch in der Stadt leben, gibt die örtliche Polizei an.
Viele von ihnen sollen alt und einsam sein. Der ständige Beschuss, das Donnern der Artillerie raubt vielen die letzte Kraft.