Soldaten an der Front in der Ukraine (Archivbild: 27.04.2024).
reportage

Debatte über Auslandsukrainer "Jetzt kann man nicht einfach abhauen"

Stand: 30.04.2024 02:37 Uhr

Wer ist geflohen? Wer hat gekämpft? Darüber diskutiert die Ukraine emotional. Für geflüchtete Männer im wehrfähigen Alter gibt es vorübergehend keine konsularische Dienstleistungen mehr - das sorgt für Aufruhr.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Es ist eine wütende Menschenmenge, die sich vor einer ukrainischen Passbehörde in Warschau versammelt hat. Konsularische Dienstleistungen sind aktuell ausgesetzt - Ukrainer im Ausland können beispielsweise keinen Reisepass mehr beantragen.

Der Druck auf die Männer steigt - auch wenn sie sich bereits nicht mehr im Land aufhalten. So will es der ukrainische Außenminister. Dmytro Kuleba spricht von Fairness. Ein Auslandsaufenthalt entbinde nicht von der Verpflichtung gegenüber der Heimat.

Der ukrainische Lastwagenfahrer Maksym hat dafür in der polnischen Hauptstadt kein Verständnis: "Das ist ein Kampf gegen Menschen, die vor der Armee fliehen. Aber wir wurden nicht gefragt, warum wir ins Ausland gegangen sind. Ich bin legal hier. Das Mobilisierungsgesetz ist noch nicht in Kraft getreten, aber hier wird es bereits angewendet."

"Die Einheiten sind deutlich unterbesetzt"

Nach monatelangem Ringen hat das ukrainische Parlament im April ein neues Mobilisierungsgesetz auf den Weg gebracht. Damit sollen mehr Männer eingezogen werden können. Denn in der Ukraine melden sich nur noch wenige Männer freiwillig für den Armeedienst.

Im Gegenteil: Viele Männer verstecken sich oder verlassen das Land. 650.000 Männer im wehrfähigen Alter sollen sich nach Berichten des österreichischen "Express" in der Europäischen Union aufhalten.

Neben sehr viel Munition fehlt es der ukrainischen Armee also auch an Personal, sagte der Soldat Ihor Firsow ukrainischen Medien. "Man muss die Dinge so sagen, wie sie sind", so Firsow. "Die Personalsituation ist schwierig. Die Einheiten sind deutlich unterbesetzt. Das ist wahrscheinlich kein Geheimnis, aber das Hauptproblem liegt nicht bei der Technik oder der Munition - sondern beim Personal. Alles, was fährt, schießt und fliegt wird letztendlich von Menschen bedient."

Männer sollen Meldedaten erneuern

Die Einberufung ins Militär wird von vielen als ineffektiv kritisiert. Oft fehlen den Behörden schlichtweg Daten. Denn viele Menschen wohnen nicht an der Adresse, wo sie gemeldet sind. Mit dem neuen Gesetz sind Männer nun aufgefordert, ihre Meldedaten zu erneuern.

Und das solle eben auch im Ausland gelten, argumentiert Roman Kostenko von der oppositionellen Golos-Partei. "Auch Wehrpflichtige im Ausland müssen ihre Daten erneuern. Und der Staat sollte alles dafür tun, dass diese Menschen zurückkommen. Es sollte keine zwei Klassen geben - diejenigen, die kämpfen und diejenigen, die Wehrpflichtig sind aber Mittel und Wege suchen, um im Ausland zu bleiben."

Ruf nach "Gerechtigkeit"

Kostenko hat selbst gekämpft, ist gut im Militär vernetzt und kennt die Probleme der Soldaten. Für viele an der Front geht es in der Debatte vor allem um Gerechtigkeit. Viele Soldaten sind seit fast zwei Jahren ohne Pausen im Einsatz. Es gibt kaum Chancen, die Armee zu verlassen - auch wegen des Personalmangels.

Für den Abgeordneten Kostenko aber hat der Vorstoß des Außenministerium auch eine ganz praktische Seite: "Dann wissen wir zumindest, womit wir rechnen können, mit wie viele Leuten. Wenn wir nicht wissen, wie viel Personal uns zur Verfügung steht, dann können wir nicht planen. Und ob wir angreifen, verteidigen oder verhandeln - das hängt alles von der Planung ab."

Immer wieder Wehrfähige mit Gewalt festgenommen

Weil die Meldeadressen oft veraltet sind, greifen die Einberufungsbehörden in vielen Fällen zu brutalen Methoden. Etliche Videos kursieren im Internet, die Männer in Uniform zeigen, wie sie Wehrfähige mit Gewalt festnehmen. An Bushaltestellen, auf dem Weg zur Arbeit oder in Fitnessstudios.

Besonnener gehen da die Männer in Kiew vor, die eine Reportage der Journalisten von "Slidstvo Info" zeigt. Sie gehen von Tür zu Tür - aber treffen in den Wohnungen nur selten Männer an. Oft öffnen Frauen - und geben keine Auskunft darüber, wo sich ihr Mann oder Sohn gerade aufhält. Zu groß ist die Angst vor der Front.

Die Wut wächst

Vom Balkon aus werden sie von einer Anwohnerin beschimpft. Wütend stürmt die Frau auf die Uniformierten zu. Es ist kein Einzelfall. Die Männer waren selbst im Einsatz - und sind an der Front verletzt worden. Bei ihrer Arbeit für die Einberufungsbehörde bekämen sie oft die Wut der Zivilbevölkerung zu spüren. So würden sie gefragt, warum sie nicht kämpften, sondern nach anderen Männern suchten "Die Menschen sagen sehr verletzende Dinge, ohne uns zu kennen", erzählt einer der Männer.

Die drei Mitarbeiter der Einberufungsbehörde zeigen der Anwohnerin ihre Kriegsverletzungen - beruhigen aber will sich die Frau nicht. Drei Männer in ihrer Familie seien bereits eingezogen worden, sagt sie. Männer hätten keine Angst vor der Behörde, erwidert einer der Uniformierten. Denn wer weglaufe, sei schließlich kein Mann.

"Jetzt muss man für sein Land kämpfen"

So denken viele Menschen in der Ukraine. Auch Lilia. Die junge Frau aus Butscha hat sich erst vor kurzem selbst der Armee angeschlossen. Ihr Freund ist im Krieg schwer verletzt und ihr Bruder getötet worden. "Ich bin zurückgekommen", erzählt sie. "Als der Krieg begann, war ich im Ausland. Ich hätte bleiben können, mir dort ein Leben aufbauen können. Ich hatte eine Wohnung, einen guten Job. Ich habe alles zurückgelassen und bin in die Ukraine zurückgekehrt. Wir werden jetzt hier gebraucht. Jetzt muss man für sein Land kämpfen und nicht einfach abhauen."

Wie viele Freunde und Bekannte Lilia schon im Krieg verloren hat, weiß sie selbst nicht genau. Sie habe aufgehört zu zählen, sagt sie. Fast all ihr Geld spendet sie an die Armee. Sie kann sich kaum den Treibstoff für ihr Auto leisten. Für diejenigen, die das Land verlassen haben, hat Lilia kein Verständnis. "Sie sollen nicht zurückkommen. Ich glaube ganz fest an den Sieg. Ich will mir gar nichts anderes vorstellen. Diejenigen, die erst nach dem Sieg zurückkehren, brauchen wir nicht. Wenn sie jetzt nicht an das Land glauben, dann brauchen wir sie auch nicht."

Populismus oder Streben nach Gerechtigkeit?

Aber so einfach ist es nicht. Gerade aus einer wirtschaftlichen Perspektive sei die Ukraine nach dem Krieg auf die vielen Geflüchteten angewiesen, argumentieren viele. Experten halten den Vorstoß des Außenministeriums daher für Populismus, der an den realen Problemen nichts ändern würde.

So sieht es auch die oppositionelle Abgeordnete Iwanna Klympusch-Zynzadse. "Das Gesetz gibt uns nicht die Möglichkeit, unsere Bürger in die Armee einzuziehen", sagt sie. "Dieser Schritt, noch dazu ein illegaler, wird schädliche Auswirkungen haben. Viele Ukrainer werden nach legalen und illegalen Wegen suchen, um Aufenthaltsgenehmigungen oder die Staatsbürgerschaft in anderen Ländern zu erhalten. Es kann nicht in unserem Interesse sein, die demografische Krise, die auf uns zukommt, noch zu verschärfen."

Menschenrechtler warnen vor Spaltung

Viele Ukrainer im Ausland sind immer weniger bereit, in die Ukraine zurückzukehren. Viele Kritiker sehen es ähnlich. Die ukrainische Führung würde zur weiteren Spaltung der Gesellschaft beitragen, sagen Menschenrechtler. Und sie würde Menschen im Ausland wegstoßen, die sich eigentlich mit der Ukraine identifizierten.

Einer von ihnen ist Dima, der mittlerweile in Deutschland lebt. In der Ukraine könnte Dima eingezogen werden. "Wer zurückkehren möchte, würde das auch tun. Aber es gibt nichts Wertvolleres als das Leben," sagt er. "Häuser, Wohnungen, Autos, Business - all das kann man zurücklassen, um nicht zu sterben. Wir haben unsere Wahl bereits getroffen. Man kann darüber streiten, ob das richtig ist oder nicht. Aber das eigene Leben ist wertvoller als alles andere. Man kann alles wiederbekommen, außer das Leben."

Die Soldaten an der Front sind nach zwei Jahren Krieg erschöpft und benötigen Entlastung. Doch kaum jemand will in einem festgefahrenen Stellungskrieg ohne ausreichend Munition kämpfen. Die ukrainische Gesellschaft muss eine schmerzhafte Debatte führen.