Europa, Ukraine und Trump "Konflikte wie der Ukraine-Krieg werden zunehmen"
Trumps Wahl ist ein Weckruf auch an Deutschland, aus dem "Dornröschenschlaf" aufzuwachen, sagt der Militärexperte Gady. Wenn die USA nicht mehr Hegemon seien, könnte das zu neuen Kriegen führen. Auch mit Folgen für die Ukraine.
tagesschau.de: Sie sind soeben aus der Ukraine zurückgekommen. Welchen Eindruck haben Sie dort von der militärischen Lage gewonnen?
Franz-Stefan Gady: Die Situation auf dem Gefechtsfeld stellt sich sehr dynamisch dar. Aus militärischer Perspektive ist sie entlang der Front nicht katastrophal. Aber es zeigen sich viele, deutlich negative Trends dahingehend, dass die Ukraine in naher Zukunft zusätzliche Gebietsverluste im Osten hinnehmen muss.
tageschau.de: Woran liegt das?
Gady: Das größte Problem ist das fehlende Personal, vor allem die Infanterie. Nach wie vor hat die Ukraine dieses Problem nicht zufriedenstellend angepackt. Trotz der Mobilisierungswelle kommt zu wenig Personal an der Front an, können Brigaden nicht rotiert werden.
Mit Teilen des Personals, das seit Mitte Mai mobilisiert wurde, wird derzeit eine operative Reserve gebildet, und es ist die Frage, ob das sinnvoll ist, wenn die russischen Streitkräfte entlang fünf Hauptangriffsachsen angreifen und in naher Zukunft eine sechste Angriffsachse bei Saporischschja dazukommen könnte. Hier müsste die Priorität sein, die Front mit zusätzlichem Personal zu stabilisieren.
"Wird die Ukraine einen weiteren Winter überstehen?"
tagesschau.de: Könnte es denn sein, dass den russischen Streitkräften in dieser Lage weitere Durchbrüche gelingen?
Gady: Ich erwarte derzeit keinen operativ signifikanten Durchbruch der russischen Streitkräfte. Die russischen Streitkräfte haben es aber immer wieder geschafft, wegen des Personalmangels der Ukrainer Durchbrüche zu erzielen. Die konnten sie aber nicht in einem größeren Rahmen operativ nutzen, zum Beispiel, um ukrainische Einheiten einzukesseln. Auch, weil auf russischer Seite die Verluste enorm hoch sind.
Die Qualität der Truppe nimmt ab, und auch ein Materialmangel macht sich hier zunehmend bemerkbar. Und auf der Materialebene kann die Ukraine den Personalmangel durch Drohnen, vor allem durch improvisierte Kamikazedrohnen und Artillerie ersetzen.
Es ist nach wie vor ein artilleriedominierter Krieg und hier ist die Situation der Ukraine im Vergleich zum Sommer deutlich besser. Was die Hilfslieferungen betrifft, gehen wir derzeit in eine gute Richtung, auch wenn der Westen grundsätzlich schneller, energischer und mehr liefern müsste. Aber wenn die Russen im Rahmen ihrer strategischen Luftkriegskampagne nicht in deutlich größeren Verbänden angreifen als im Winter 2023/2024, könnte die Ukraine diesen Winter überstehen. Die Frage wird dann sein: Wird die Ukraine einen weiteren Winter überstehen?
"Einzelne Länder müssen jetzt Führung zeigen"
tagesschau.de: Aber unter dem künftigen Präsidenten Donald Trump könnte genau das nicht passieren, denn er hat immer wieder erklärt, dass er die Unterstützung der USA deutlich reduzieren, wenn nicht gar einstellen will.
Gady: Wir müssen uns im Klaren sein, dass Europa nur teilweise fehlende amerikanische Militärhilfe kompensieren kann. Ohne die USA wird es mit den derzeitigen Mitteln nahezu unmöglich, das jetzige Level an militärischer Unterstützung aufrechtzuerhalten.
Hier muss Europa wirklich energisch agieren, einzelne Länder wie Deutschland müssen jetzt Führung zeigen und aus dem Windschatten der USA treten. Wir können das schaffen. Es ist möglich, mittel- bis langfristig die Ukraine besser zu unterstützen.
"Waffenstillstand ohne Garantiemacht führt zu Nachfolgekrieg"
tagesschau.de: Es gibt Gerüchte, Trump und Putin hätten schon miteinander gesprochen und auch über Gebietsabtretungen der Ukraine geredet. Der Kreml dementiert das, Trumps Umfeld hält sich bedeckt. Ist so ein Szenario denn realistisch?
Gady: Wir wissen von einer Idee des designierten Vizepräsidenten J.D. Vance, der der Ukraine einen Neutralitätsstatus geben und gleichzeitig den Konflikt entlang der jetzigen Grenzen einfrieren will. Hier stellen sich zwei Probleme.
Die Ukraine war 2014, als der russische Angriff begann, de facto neutral. Das hat sie nicht vor russischer militärischer Aggression geschützt. Zweitens bräuchte es für einen Neutralitätsstatus Garantien. Ich glaube aber nicht, dass die Vereinigten Staaten bereit sein werden, als Garantiemacht die Neutralität der Ukraine zu gewährleisten, die Waffenstillstandslinie zu überwachen und notfalls militärisch auf Seiten der Ukraine direkt in den Konflikt einzugreifen.
Wenn aber die Ukraine gezwungen wird, einen Waffenstillstand ohne Garantiemacht zu unterzeichnen und ohne eine klare Definition ihres Status durch eine engere Westanbindung, eine EU- oder NATO-Mitgliedschaft, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Nachfolgekrieg kommen.
"Solche Konflikte werden zunehmen"
tagesschau.de: Ein Abschied der USA von der Rolle als Schutzmacht könnte also neue Konflikte heraufbeschwören?
Gady: Ich glaube, wir befinden uns in einem neuen Zeitalter der Nachfolgekriege, wie sie oft in multipolaren Systemen stattfinden - darüber schreibe ich auch in meinem neuen Buch. Man denke zum Beispiel an die ganze Reihe von deutsch-französischen Kriegen, von denen in gewisser Weise auch der Erste und Zweite Weltkrieg Nachfolgekriege waren.
Solche Konflikte werden zunehmen, wenn es keinen globalen Hegemon wie die USA mehr gibt, der gewillt ist, die Weltordnung aufrechtzuerhalten und der stattdessen mit sich selbst beschäftigt ist und in dem es keinen Konsens über die eigene Rolle in der Welt gibt. Ein weiterer Nachfolgekrieg in der Ukraine wäre für diese größere Umwälzung ein Symptom.
"Deutschland und Österreich immer noch im Dornröschenschlaf"
tagesschau.de: Sie sagten, Europa könne in Teilen die etwaig wegfallende Hilfe der USA ersetzen. Wir erleben aber, dass diese Hilfe in den Gesellschaften Europas und auch in den Parlamenten zunehmend kontrovers diskutiert wird. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Gady: Deutschland, aber auch Österreich, befinden sich sicherheitspolitisch immer noch in einem Dornröschenschlaf. Wir haben uns im deutschsprachigen Raum seit 1945 nicht ernsthaft mit militärischer Macht auseinandersetzen wollen. Das hat während des Kalten Krieges ein paar Jahrzehnte funktioniert, in Westdeutschland, weil es unter der Schirmherrschaft der Vereinigten Staaten stand.
Es wäre unkomfortabel gewesen, sich damit auseinandersetzen zu müssen, was es bedeutet, sicherheitspolitisch unabhängig zu agieren. Die westdeutsche Bundeswehr war zwar stark und hoch gerüstet, aber das strategische Denken hat man an die USA und die NATO ausgelagert.
Und ich sehe immer noch eine große Furcht davor, seine nationalen Interessen oder gesamteuropäischen Interessen notfalls militärisch zu verteidigen. Hier muss man einen gesellschaftlichen Dialog führen und schwierige Fragen beantworten.
Aus militärischer Perspektive ist es unumgänglich, dass Deutschland die Kapazität seiner Streitkräfte steigert, um künftige Konflikte vor allem an der NATO-Ostflanke durch Abschreckung zu verhindern. Um die Landstreitkräfte auszubauen sind bis zu 300.000 Reservisten erforderlich. Dazu kommt man aber nur über eine neue Art der Dienstpflicht.
"Bürokratische Lähmung überwinden"
tagesschau.de: Sehen Sie Anzeichen dafür, dass Deutschland für eine solche Debatte bereit ist?
Gady: Ich bin leicht optimistisch. Es gab in den vergangenen Jahren schon eine große Veränderung. Wenn ich Ihnen 2020 gesagt hätte, dass im Jahr 2023 die Speerspitzen eines vom Westen unterstützten Landes deutsches Kriegsgerät in einer Offensive gegen Russland einsetzen, dann hätten Sie mich wahrscheinlich für verrückt erklärt. Hier ist einiges in Bewegung geraten.
Meine große Furcht ist aber, dass es in einer deutschen Verzagtheit oder in bürokratischer Lähmung mündet. Letztere zu überwinden - in den Streitkräften und im politischen Apparat - ist das Allerwichtigste.
Wir müssen wieder lernen, Streitkräfte nicht durch den Frieden und die Bürokratie zu denken, sondern vor allem durch den Krieg und die militärische Einsatzfähigkeit. Das ist das große Umdenken, das innerhalb der politischen Klasse stattfinden muss. Und das ist auch einer der Hauptgründe, warum ich mein jüngstes Buch geschrieben habe. Es ist in gewisser Weise an die deutschsprachige politische Klasse adressiert.
"Russland nicht das einzige Problem"
tagesschau.de: Wir erleben aber, das drückt sich in Wahlergebnissen aus, eine große Kriegsmüdigkeit, vielleicht auch mit der Kompliziertheit dieser Welt überhaupt und eine Sehnsucht danach, endlich schnell zu einem Frieden zu kommen - und zu einem besseren Einvernehmen mit Russland.
Gady: Hier gibt es ein Versagen auf der politischen und der Kommunikationsebene. Es ist nicht klar durchdefiniert worden, warum die Souveränität der Ukraine ein integraler Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur ist.
Wir müssen aufhören mit der isolationistischen Denkweise, die Russland als das einzige Problem sieht. Wir reden über eine Achse - über China, Nordkorea, Iran und andere Staaten, die Russland positiv gewogen sind.
Die Erschütterung der globalen liberalen Weltordnung hat direkte Auswirkungen auf unseren Wohlstand, und es gibt keine Alternative als einen engeren Zusammenschluss des Westens. Alles andere würde einen viel größeren Einfluss Russlands und der Staaten bedeuten, die westlichen Werten feindlich gesinnt sind. Hier steht vieles auf dem Spiel.
Der einzige Grund, warum populistische Parteien im linken und rechten Spektrum nach Wählern fischen und offen gegen diese globale liberale Ordnung agieren können, ist, dass diese liberale globale Weltordnung durch militärische Macht abgesichert ist. In der Vergangenheit waren es die USA, die es ihnen erlaubt haben, hier in Freiheit ganz nach ihrem Willen ihren Gedanken nachzugehen.
Und ich glaube, die Leute, die jetzt prorussische oder antiwestliche Tendenzen haben, werden sehr schnell sehen, dass es zu unserem System keine Alternative gibt. Und sie werden es relativ ungemütlich finden, wenn ein anderes System das jetzige ersetzen wird.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de.