Gräueltaten in der Ukraine "Es ist Völkermord"
Die Gräueltaten in der Ukraine werden begleitet von russischen Forderungen, alles Ukrainische zu zerstören. Experten sehen darin mehr als Kriegsverbrechen. Sie sprechen von Völkermord.
Im Angesicht der Gräueltaten in Butscha hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von einem Völkermord an den Menschen in der Ukraine gesprochen: "Das sind Kriegsverbrechen und sie werden von der Welt als Völkermord anerkannt werden."
Bereits drei Tage nach Kriegsbeginn hatte die Ukraine beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Klage gegen Russland eingereicht und die Führung in Moskau beschuldigt, sich eines Völkermordes schuldig zu machen. Das Gericht solle Russland veranlassen, die Militäroperationen sofort einzustellen und Reparationen zu zahlen.
Absoluter Tiefpunkt menschlichen Verhaltens
Der Vorwurf des Völkermordes geht über den des Kriegsverbrechens hinaus. Letzteres bezieht sich, vereinfacht gesagt, auf Gewalt gegen Kriegsgefangene sowie Zivilisten und zivile Einrichtungen, die nicht in Kampfhandlungen involviert sind.
Völkermord bezeichnet darüber hinaus Handlungen, die mit der Absicht begangen werden, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". So steht es in Artikel II der UN-Antivölkermordkonvention, die 1948 angenommen wurde. Dazu zählen nicht nur gezielte Tötungen, sondern auch schwerer körperlicher und seelischer Schaden und die "vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung" herbeizuführen. Völkermord wird als das "Verbrechen der Verbrechen", als absoluter Tiefpunkt menschlichen Verhaltens angesehen.
Schöpfer der englischen Bezeichnung Genocide und des Konzepts dazu war der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin. Er hatte sich intensiv mit dem Holocaust und den Massakern an den Armeniern im Ersten Weltkrieg durch die Türkei befasst.
Nachweis aufwändig
Der Nachweis eines solchen geplanten Vorgehens gegen eine Gruppe oder ein Volk wie die Ukrainer ist noch einmal schwieriger als bei Kriegsverbrechen. Es war der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, der in den vergangenen Jahren nach Vorlage umfangreicher Beweismittel und Zeugenaussagen wegen Völkermordes Anklagen erhob und Haftbefehle auch gegen Staatsführer ausstellte, so wegen des Krieges im Sudan zwischen 2003 und 2008. Auch die Bundesanwaltschaft ermittelt bei solch schweren Verbrechen auf Basis des "Weltrechtsprinzips".
In Konflikten äußern beteiligte Parteien oft schnell den Vorwurf des Völkermordes - um internationale Aufmerksamkeit zu erlangen und eigenes militärisches Vorgehen zu rechtfertigen. Auch Russland spricht von einem angeblichen Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine.
Der emeritierte Professor für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, Christian Tomuschat, schrieb dazu in einem Blogeintrag der Zeitschrift "Osteuropa": Solche Behauptungen seien "aus der Luft gegriffen" und stellten sich als "lügenhafte Hirngespinste" dar. Ganz im Gegenteil zeigten die Berichte der OSZE-Beobachtermission dort, dass die ukraine-treue Bevölkerung in den "Volksrepubliken" seit 2014 "durch kriminelle Taten, Mord und Verschleppung eingeschüchtert und terrorisiert" worden sei.
Parallelen zum Bosnien-Krieg in Mariupol
Die Ukraine jedoch steht nicht allein mit ihrem Vorwurf da. Während die US-Regierung noch zurückhaltend bleibt, sagte Polens Präsident Andrzej Duda, es sei "schwer zu leugnen", dass die russischen Aktionen in Butscha einen Völkermord darstellten.
Auch die langjährige Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck sieht Anzeichen für einen Völkermord. Dazu zähle, dass der Ukraine das Existenzrecht als Nation und die Identität als Volk abgesprochen werde. Auch gezielte Angriffe auf Zivilisten und das Verstellen von Fluchtwegen für die Zivilbevölkerung sprächen dafür.
Beck, die vor wenigen Tagen Kiew besucht hat, warnt: Es gehe nicht nur um die Gräueltaten in den Vororten von Kiew. Schlimmeres sei in der Hafenstadt Mariupol zu befürchten, die seit Wochen belagert wird. Von dort gebe es noch keine Bilder.
Der Stadtrat von Mariupol teilte mit, die russischen Streitkräfte hätten mobile Krematorien im Einsatz, um die Zahl der Toten zu verschleiern. Es müsse mit Zehntausenden getöteten Zivilisten gerechnet werden. Eine unabhängige Überprüfung der Vorgänge in der eingekesselten Stadt ist nicht möglich. Das Internationale Rote Kreuz versuchte in den vergangenen Tagen vergeblich, Mariupol zu erreichen. Aus Sicherheitsgründen mussten die Mitarbeiter immer wieder umkehren.
Es gebe keine sicheren Fluchtwege, nicht einmal für die Zivilbevölkerung, betont Beck. Es sei zudem zu befürchten, dass Männer gar keine Chance hätten, die Stadt lebend zu verlassen. Das erinnere an Srebrenica. Das Massaker an Jungen und Männern im Juli 1995 während des Bosnienkrieges bewertete der Internationale Strafgerichtshof später auf Basis der UN-Völkermordkonvention als Genozid. Beck sagt über das Geschehen in Mariupol: "Das ist Völkermord". Sie sieht sich durch die Einschätzungen mehrerer Völkerrechtsexperten bestätigt.
Anzeichen für den Tatbestand des Völkermordes
Der Rechtswissenschaftler Otto Luchterhandt, bis 2008 Direktor der Abteilung Ostrechtsforschung an der Universität Hamburg, sieht im Vorgehen der russischen Streitkräfte gegen die Stadt Mariupol den "objektiven Tatbestand des Völkermordverbrechens" erfüllt, wie er in einem Papier schreibt. Bereits Anfang März seien durch Bomben und Raketen weit mehr als 1000 Menschen getötet worden. Und der Beschuss dauere an. Die russischen Streitkräfte kontrollierten den Luftraum und hätten die Stadt eingekesselt, sie hätten die zivilen Versorgungsnetze und die Infrastruktur gezielt zerstört, wodurch selbst elementare medizinische Versorgung in Frage gestellt sei.
Mithin kämen drei Formen der Begehung von Völkermord in Betracht: Tötung von Mitgliedern einer Gruppe, Verursachung von schwerem körperlichen und seelischem Schaden an diesen Mitgliedern sowie "vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen". Aus den objektiv feststellbaren Tatsachen könne indirekt auf die "genozidale Zerstörungsabsicht" der Bürgerschaft Mariupols geschlossen werden. Dies bleibe einer wertenden Gesamtbetrachtung überlassen.
Völkerrechtsexperte Tomuschat schreibt, alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass in Mariupol der Tatbestand des Völkermordes erfüllt sei - "weil den russländischen Befehlshabern mit dem Einsatz ihrer Waffen über viele Tage hinweg daran gelegen war, die verbliebenen Einwohner von Mariupol speziell wegen ihrer Eigenschaft als ukrainische Staatsbürger zu Tode zu bringen".
Schwelle vom Kriegsverbrechen zum Völkermord überschritten
Eugene Finkel, Professor für internationale Angelegenheiten an der Johns Hopkins University im US-amerikanischen Baltimore, plädiert für einen sorgsamen Umgang mit dem Begriff Völkermord. Als Holocaust-Forscher und Nachkomme von Holocaust-Überlebenden habe er deswegen schon oft Kritik an Regierungen postsowjetischer Staaten geübt - auch der Ukraine. Nun aber nicht mehr.
In einem Beitrag für die "Washington Post" verweist er unter anderem auf die russische Propaganda. Zwar stelle der Versuch eines Regimewechsels in Kiew und die Ablehnung der ukrainischen Staatlichkeit für sich genommen noch kein Beweis für die Absicht dar, einen Völkermord zu begehen. Als jedoch klar geworden sei, dass sich die Ukrainer gegen die russische Invasion zur Wehr setzten, habe sich das russische Denken vom Imperialismus zum Völkermord gewandelt.
Zu den zahlreichen Belegen zähle ein von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti am 3. April veröffentlichter Text mit dem Titel "Was soll Russland mit der Ukraine tun". Darin wird ein Plan zur Zerstörung der Ukraine und der Ukrainer beschrieben. Nicht nur die ukrainische Elite müsse liquidiert werden, auch ein "beträchtlicher Teil der Bevölkerung" sei "schuldig". Eine "Umerziehung" würde "unweigerlich zu einer De-Ukrainisierung" führen.
Die Kombination aus offiziellen Erklärungen, in denen der Ukraine und den Ukrainern das Existenzrecht abgesprochen werde, und den sich häufenden Beweisen für gezielte, groß angelegte Angriffe auf Zivilisten ließen wenig Raum für Zweifel, so Finkel. Er kommt zu dem Schluss: "Die Schwelle vom Kriegsverbrechen zum Völkermord ist überschritten."