Europäische Union EU-Parlament spricht Ungarn Demokratie-Status ab
Das Land sei zu einem "hybriden System der Wahlautokratie" geworden: Das Europaparlament hat Ungarn in einer Erklärung den Status einer Demokratie abgesprochen. Wegen rechtsstaatlicher Verstöße droht Ungarn die Kürzung von EU-Geldern.
Das Europäische Parlament hat Ungarn abgesprochen, eine Demokratie zu sein. "Unter Sachverständigen" herrsche zunehmend Einigkeit darüber, "dass Ungarn keine Demokratie mehr ist", hieß es in einer von der Mehrheit der Abgeordneten in Straßburg gebilligten, nicht bindenden Entschließung. Ungarn sei "zu einem hybriden System der Wahlautokratie geworden".
Die Abgeordneten kritisierten die Europäische Union selbst, nicht entschlossen genug gehandelt zu haben. Das Parlament bedauere, "dass das Fehlen entschlossener Maßnahmen der EU zu einem Zerfall der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn beigetragen hat". Über Monate hatten die Europaabgeordneten die EU-Kommission in Brüssel aufgefordert, etwas gegen mutmaßliche Rechtsstaatsverstöße in Ungarn zu tun und dem Land womöglich EU-Gelder zu kürzen.
Scharfe Kritik aus Ungarn
Scharfe Kritik an der Entscheidung des EU-Parlaments kam aus Ungarn. Außenminister Szijjarto sagte auf einer Pressekonferenz in der ungarischen Hauptstadt Budapest: "Ich empfinde es als Beleidigung der Menschen in Ungarn, wenn jemand die Demokratiefähigkeit Ungarns in Frage stellt." "Einige" Politiker in Straßburg und Brüssel wollten sein Land "erniedrigen", fügte Szijjarto hinzu.
Kürzung von EU-Geldern?
Ungarn die Mittel zu kürzen - einen entsprechenden Vorschlag an die Mitgliedsstaaten könnte die EU-Kommission am Sonntag beschließen, berichtet die Nachrichtenagentur dpa unter Berufung auf EU-Kreise. Es wäre das erste Mal, dass die Kommission wegen rechtsstaatlicher Verstöße die Kürzung von EU-Mitteln vorschlägt. Allerdings besteht noch immer die Möglichkeit für einen Kompromiss mit Budapest. Im Europaparlament wird deshalb befürchtet, dass das Geld letztlich doch an Ungarn fließen wird. Dabei betonte Kommissionschefin Ursula von der Leyen noch am Mittwoch, entschieden gegen Korruption vorgehen zu wollen. Dabei erwähnte sie auch den Rechtsstaatsmechanismus, der den Missbrauch von Geld aus dem EU-Haushalt verhindern soll.
Rechtsstaatsmechanismus im April ausgelöst
Ungarn ist bislang das einzige Land, gegen das ein Verfahren nach diesem Mechanismus läuft. Die EU-Kommission bemängelt schon lange weit verbreitete Korruption in dem seit zwölf Jahren von Ministerpräsident Viktor Orban regierten Land. In einem Bericht vom Juli ist die Rede von "einem Umfeld, in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden".
In einem anderen Dokument der Behörde werden vor allem Defizite in der öffentlichen Auftragsvergabe kritisiert. Es gebe "schwerwiegende systembedingte Unregelmäßigkeiten, Mängel und Schwachstellen in den öffentlichen Vergabeverfahren".
Weil die EU-Kommission dadurch die Gefahr sieht, dass EU-Geld missbraucht wird, löste sie schon im April den Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn aus. Der Vorschlag, Geld zu kürzen, wäre der nächste Schritt in dem Verfahren. Aus dem Dokument der EU-Kommission geht hervor, dass sie den EU-Staaten vorschlagen könnte, bis zu 70 Prozent aus mehreren Programmen des Strukturfonds zur Förderung benachteiligter Regionen einzubehalten. Berechnungen des Grünen-Europaabgeordneten Daniel Freund zufolge könnten das rund sieben Milliarden Euro sein. Aus EU-Kreisen hieß es, die Zahlen könnten sich noch ändern.
Maßnahmen, die Brüssel beschwichtigen sollen
Zudem werde die Behörde Sonntag Empfehlungen beschließen, wie die Missstände in Ungarn behoben werden könnten, hieß es. Sollte Ungarn alle Empfehlungen umsetzen, könnte es sein, dass das Geld gar nicht erst eingefroren wird.
Die ungarische Regierung hatte zuletzt erstmals seit langem etwas Bewegung im Streit mit Brüssel erkennen lassen. In den vergangenen Wochen stellte sie mehrere Maßnahmen in Aussicht, die die EU-Kommission beschwichtigen sollen. Unter anderen will Budapest eine neue Anti-Korruptions-Behörde schaffen, die Zahl der öffentlichen Ausschreibungen mit nur einem einzigen Anbieter deutlich einschränken und das parlamentarische Durchwinken von oft wichtigen Gesetzen im 24-Stunden-Eilverfahren beenden.
Der zuständige Minister Tibor Navracsics erklärte am Mittwochabend in einem Fernseh-Interview, dass der Gesetzesentwurf für die Anti-Korruptions-Behörde bereits zu Beginn der kommenden Woche ins Parlament eingebracht werden soll. Die Leiter dieser Behörde sollen demnach im Rahmen öffentlicher Ausschreibungen bestellt werden. Die Bestellungskommission werde mit internationalen, fachlich anerkannten Experten besetzt, das Verfahren in Abstimmung mit Brüssel durchgeführt. Das Mandat der Behörde, ihre Kompetenzen und Rechte bleiben öffentlich aber weiter unklar. Ungarische Anti-Korruptions-Aktivisten warnen davor, dass die Orban-Regierung die Brüsseler Instanzen hinters Licht führen könnte.
Die Entscheidung darüber, Milliarden Euro für Ungarn aus dem EU-Haushalt einzufrieren, treffen letztlich die EU-Staaten. Sie haben nach der Empfehlung der EU-Kommission bis zu drei Monate Zeit für den Beschluss, dem mindestens 15 Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmen müssten.