Ungarn-Resolution des EU-Parlaments Mehr als nur eine symbolische Breitseite?
Budapest als ehrlicher Vermittler zwischen den EU-Staaten? Das EU-Parlament zweifelt an Ungarns Eignung für den Ratsvorsitz im kommenden Jahr. Aber es ist unklar, ob und wie Budapest die Aufgabe entzogen werden könnte.
Es braucht schon einige Fantasie, um daran zu glauben, dass sich ein skrupelloser Blockierer innerhalb eines Jahres zum ehrlichen Makler wandelt. Vielen in Brüssel fehlt diese Vorstellungskraft. Sie gehen nicht davon aus, dass Ungarn im zweiten Halbjahr 2024 glaubwürdig den Ratsvorsitz der Europäischen Union ausfüllen kann: Ein Land, das seit Jahren EU-Beschlüsse ausbremst und wegen Rechtsstaatsverstößen am Pranger steht, soll dann die Beratungen über europäische Gesetze organisieren, eigene Interessen hintanstellen und zwischen den übrigen 26 Regierungen vermitteln.
Und das ausgerechnet in der entscheidenden Phase nach der Europawahl, wenn sich das neue EU-Parlament konstituiert und die nächste Kommission ihr Arbeitsprogramm festlegt.
Abgeordnete stellen verheerendes Zeugnis aus
Vor einem Dreivierteljahr haben die EU-Abgeordneten Ungarns politischem System mehrheitlich abgesprochen, noch eine Demokratie zu sein und es stattdessen als "Wahlautokratie" bezeichnet. Jetzt legen sie nach: In einer Entschließung, die mit den Stimmen der fünf pro-europäischen Fraktionen angenommen wurde, beklagt das EU-Parlament, dass sich die Lage der Grundrechte in Ungarn weiter verschlechtert habe.
Die Abgeordneten stellen infrage, wie Budapest vor diesem Hintergrund im zweiten Halbjahr 2024 den EU-Ratsvorsitz übernehmen kann. Das Parlament fordert die EU-Länder auf, dafür schnellstmöglich eine "angemessene Lösung" zu finden. Falls die nicht kommt, könnte das Parlament dem Beschluss zufolge "geeignete Maßnahmen" ergreifen.
Die juristische Lage ist knifflig
Die Sache hat allerdings einen gewaltigen Haken: Niemand weiß, wie die geforderte Lösung aussehen könnte. Die Besetzung des EU-Ratsvorsitzes ist Sache der Mitgliedsstaaten, dabei hat das Parlament nichts mitzureden. Der rotierende Vorsitz ist in den EU-Verträgen verankert, bisher wurden Wechsel in der Reihenfolge im Konsens vereinbart (formal reicht die qualifizierte Mehrheit) und noch nie wurde ein Land übergangen.
Nach Ansicht von Fachleuten ist unklar, ob und wie einem Mitgliedsland die Präsidentschaft streitig gemacht werden kann. Auch Abgeordnete, die an der Parlamentsentschließung mitgearbeitet haben, räumen ein, dass die Vertragstexte darüber keinen Aufschluss geben und Experten und Regierungen unsicher sind.
Niederländische Juristen des so genannten Meijers-Committee schlagen drei Möglichkeiten vor: Ungarn die Präsidentschaft zu überlassen, aber heikle Themen durch andere Regierungen verhandeln zu lassen, den ungarischen Vorsitz auf Grundlage der geltenden Regeln zu verschieben oder aber ein neues Gesetz zu beschließen, das die Präsidentschaft eines Landes verhindert, gegen das ein Rechtsstaatsverfahren läuft.
Wie realistisch diese Optionen sind, bleibt offen. Budapest hat bekräftigt, an seinem Vorsitz festhalten zu wollen.
Mehr als Symbolpolitik?
Die Einflussmöglichkeiten des EU-Parlaments sind begrenzt. Deshalb versuchen die Abgeordneten mit ihrem Beschluss, den Ball ins Feld der EU-Mitgliedsstaaten zu spielen. Ob die Resolution mehr ist als Symbolpolitik entscheidet sich erst, wenn die Regierung ihn aufnehmen und das ist derzeit ungewiss.
Zwar ist Ungarn im Kreise der 27 völlig isoliert, unter anderem, weil es mehrmals Strafmaßnahmen gegen Russland torpediert hat. Gegen Budapest laufen Verfahren, weil es die Presse- und Meinungsfreiheit einschränkt, die Unabhängigkeit der Justiz beschneidet, nicht angemessen mit Minderheiten umgeht und zu wenig gegen Korruption unternimmt.
Die EU-Kommission hält insgesamt fast 28 Milliarden Euro für das Land zurück, weil es den Missbrauch der Mittel befürchtet. Die Bundesregierung bezweifelt, ob Ungarn eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft führen kann, die niederländische Regierung äußert Unbehagen.
Aber Frankreich hält sich zurück und Österreich spricht sich dagegen aus, Budapest den Vorsitz zu entziehen. Ein gutes Jahr bleibt der EU jetzt, um die vom Parlament geforderte angemessene Lösung im Streit um Ungarns Ratsvorsitz zu finden. Danach ist übrigens Polen an der Reihe, das ebenfalls wegen Rechtsstaatsverstößen mit Brüssel im Dauerstreit liegt.