Nach Terroranschlag bei Moskau "Putin versucht, vom eigenen Versagen abzulenken"
Nach dem Terroranschlag versuche Russlands Präsident Putin, Verbindungen der Attentäter in die Ukraine zu konstruieren, sagt Militär- und Russlandexperte Lange. Auch von Spekulationen zu einer Urheberschaft Moskaus hält er nichts.
ARD: Nach dem Bekennerschreiben hat die Terrororganisation "Islamischer Staat" auch ein Video veröffentlicht und reklamiert damit diesen Anschlag wieder für sich. Stehen die Täter für Sie damit fest?
Nico Lange: Ja, das entspricht dem Muster, das man kennt von ISPK ("Islamischer Staat Provinz Khorasan", ein Ableger der Terrororganisation "Islamischer Staat"). Sowohl die Warnungen als auch die Bekennerschreiben und jetzt auch dieses Video sind authentisch. Man muss davon ausgehen, dass der ISPK diesen Anschlag begangen hat.
Nico Lange ist Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz und war bis Anfang 2022 Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung. Er lebte und arbeitete zuvor lange in Russland und der Ukraine und spricht fließend Russisch und Ukrainisch. Lange lehrt aktuell am Lehrstuhl für Militärgeschichte der Universität Potsdam.
Warnung vor Anschlag "weggewischt"
ARD: Und warum bringt Russlands Präsident Wladimir Putin dann trotzdem die Ukraine mit dem Angriff in Verbindung?
Lange: Putin ist ja gewarnt worden vor diesem Anschlag beziehungsweise vor einem solchen Anschlag auf ein öffentliches Ereignis. Und er hat diese Warnung weggewischt. Er hat sich fast schon darüber lustig gemacht, das sei alles ein Erpressungsversuch.
Stellen Sie sich das mal bei uns vor: Wenn ein Staatschef oder ein Regierungschef gewarnt wird vor einem Terroranschlag, dann sagt, das ist alles falsch - und dann geschieht dieser Anschlag tatsächlich. Das ist die Situation in Russland.
Putin versucht, vom eigenen Versagen abzulenken und jetzt besonders überzogen zu reagieren. Und er hat seinen ganzen Sicherheitsapparat auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine konzentriert. Deswegen versucht er jetzt auch, Spuren dorthin zu konstruieren. Das ist aber ganz eindeutig konstruiert.
"Nichts, was auf die Ukraine hinweist"
ARD: Gibt es denn aus Ihrer Sicht nichts, was auf die Ukraine hinweisen könnte?
Lange: Nein, es gibt nichts, was auf die Ukraine hinweist. Alle Terrorismusexperten bestätigen, dass es nicht nur die Terrorismusgefahr durch den ISPK gibt, sondern dass auch diese Bekennerschreiben und die Videos authentisch sind. Wir sollten nicht die russische Propaganda wiederholen.
"Nicht gut darin, Terroranschläge zu verhindern"
ARD: Was sagt es über den Zustand der Sicherheitsbehörden in Russland aus, dass es trotz der Warnungen der US-Geheimdienste zu diesem Anschlag gekommen ist?
Lange: Russland ist gut darin, Geständnisse aus Leuten herauszufoltern und überzogen zu reagieren. Aber Russland ist nicht gut darin, terroristische Anschläge zu verhindern. Das wissen wir auch aus der Vergangenheit schon.
Und dieses Muster sehen wir ja jetzt auch: Die Terrorverdächtigen sind brutal gefoltert worden. Wenn man sieht, wie sie vor Gericht aussehen, kann man sich vorstellen, was der russische Sicherheitsapparat mit ihnen gemacht hat.
Die Sicherheitsbehörden haben aber eine Stunde gebraucht, um zu der Crocus-Konzerthalle überhaupt hinzukommen, während dort Menschen ermordet wurden und das Gebäude in Brand gesteckt wurde. Die Sicherheitsbehörden in Russland kompensieren ihre Fehlleistungen durch überzogene Brutalität im Nachhinein.
Urheberschaft Russlands?
ARD: Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter hat auch eine mögliche Urheberschaft von Russland selbst ins Spiel gebracht für diesen Anschlag. Halten Sie denn das für möglich?
Lange: Wir sind ja immer sehr schnell darin - das liegt vielleicht auch an den Spekulationen, die immer übers Internet und über soziale Medien sofort ins Kraut schießen - hinter allem ganz große Verschwörungen zu vermuten.
In diesem Fall ist die Sachlage heute aus meiner Sicht klar: Der "Islamische Staat" in dieser Form aus Khorasan hat diesen Anschlag vorbereitet und durchgeführt.
Und es besteht ja auch eine Terrorismusgefahr für ganz Europa. Das betrifft ja nicht nur Russland. Das ist die Sachlage - und ich glaube, andere Dinge kann man da jetzt nicht mehr hineininterpretieren.
Das Gespräch führte Liane Koßmann, NDR. Für die schriftliche Fassung wurde es leicht redigiert.