Einigung auf EU-Spitzen Noch ist der Machtpoker nicht entschieden
Fast hat sie es geschafft: Von der Leyen steht vor einer weiteren Nominierung für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin. Noch muss sie aber einige Hürden nehmen. Wie sichert sie sich die Mehrheit im EU-Parlament? Wer spielt dabei welche Rolle?
Noch kann die Sektflasche oder ein anderer Siegestrunk im Kühlschrank bleiben. Noch gibt es keine Gewissheit, dass Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission sicher hat. Doch am heutigen Tag ist sie dem Ziel einen großen Schritt näher gekommen.
Es geht um den wohl mächtigsten Posten, der in Brüssel nach der Europawahl zu vergeben ist. Auch wenn es nicht direkt vergleichbar ist: Die Kommission kommt einer EU-Regierung, einer Exekutive, noch am nächsten. Sie ist die einzige Institution der Europäischen Union, die Gesetze auf den Weg bringen kann.
Von der Leyen hat der EU-Kommission in ihren ersten fünf Amtsjahren mehr Einfluss verschafft. Kritiker sagen, sie habe deren Befugnisse weit überdehnt.
Sechsergruppe einigt sich auf EU-Spitzenpersonal
Um den Job noch einmal zu bekommen, muss von der Leyen von den Staats- und Regierungschef der EU vorgeschlagen werden. Dafür braucht es keine einstimmige Entscheidung, aber doch eine ausreichende Mehrheit. Nach Informationen des ARD-Studios Brüssel hat sich eine Sechsergruppe, der auch Bundeskanzler Olaf Scholz angehört, auf ein Paket der wichtigsten EU-Spitzenposten geeinigt. Zuerst hatte die Nachrichtenagentur dpa diese Einigung vermeldet.
Für Außenstehende wirft das die Frage auf, warum eine Sechsergruppe so entscheidend ist, wenn doch am Gipfeltisch 27 Länder mit ihren Chefinnen und Chefs vertreten sind. Zusammengeschaltet waren die Verhandlungsführer im Rat der Staats- und Regierungschefs von drei großen Parteifamilien. Für Europas Christdemokraten (EVP) waren das der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis sowie Polens Ministerpräsident Donald Tusk, für die Sozialdemokraten neben Scholz auch der spanische Regierungschef Pedro Sánchez und für die Liberalen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sowie der scheidende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte.
Die drei Gruppen verstehen sich als Unterstützungsplattform für von der Leyen. Zusammen verfügen sie über genügend Stimmen beim Gipfel, so dass es für die nötige qualifizierte Mehrheit reicht. Beim Treffen am Donnerstag sollte eigentlich keine Überraschung mehr warten.
Costa als Ratspräsident, Kallas als Außenbeauftragte
Die Einigung der Sechs umfasst ein Personalpaket: Neben der Nominierung von der Leyens für eine zweite Amtszeit zählen dazu der Portugiese Antonio Costa, ein Sozialdemokrat, als Ratspräsident sowie Kaja Kallas aus Estland als EU-Außenbeauftragte.
Im Grunde lag genau diese Kombination schon beim informellen Gipfel vor gut einer Woche auf dem Verhandlungstisch. Zu einer finalen Einigung war es aber noch nicht gekommen. Das dürfte auch daran gelegen haben, dass die Wahlsieger, Europas Christdemokraten, ein wenig zu selbstbewusst und fordernd aufgetreten waren.
Im Raum stand deren Forderung, den Sozialdemokraten den Ratspräsidenten nur für zweieinhalb Jahre zuzugestehen und dann selbst zu übernehmen. Die jetzt gefundene Einigung legt wohl weiterhin nur die zweieinhalb Jahre für die Sozialdemokraten fest, stellt aber volle fünf Jahre in Aussicht. Es klingt nach einer Kompromissformel, mit der alle leben können.
Suche nach einer stabilen Mehrheit im Parlament
Für Wählerinnen und Wähler mag all das schon nach einem ziemlichen Geschacher klingen. Doch der Weg für Ursula von der Leyen zu einer zweiten Amtszeit ist damit nicht endgültig planiert. Die Geschichte des Machtpokers ist noch nicht zu Ende erzählt. Zwischenfazit: Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit sollte die Amtsinhaberin beim Gipfel am Donnerstag dramafrei vom Rat nominiert werden. Doch dann fehlt immer noch die abschließende Bestätigung im Parlament.
Im Brüsseler Europaviertel wird seit der Wahl bei Sommerempfängen und in Hintergrundgesprächen intensiv diskutiert, analysiert und gerechnet: Wie sichert sich Ursula von der Leyen im EU-Parlament die nötige Mehrheit? Eine engere Zusammenarbeit planen bisher die Europäische Volkspartei, zu der auch von der Leyens CDU gehört, die Sozialdemokraten sowie Liberalen. Deren Stimmen würden reichen. Doch Abweichler wird es wohl geben. Nur wie viele? Was tun gegen ein Wackeln der Mehrheit?
Und hier kommt Georgia Meloni in die Diskussion. Die italienische Ministerpräsidentin sieht den Wahlerfolg ihrer Partei Fratelli d´Italia bisher nicht ausreichend gewürdigt. Zu den Gesprächen über das Personalpaket hat man sie nicht dazugeholt.
Sozialdemokraten, Liberale und Grüne signalisieren von der Leyen deutlich, im Parlament kein formelles Bündnis mit den Fratelli einzugehen. Der grüne Abgeordnete Michael Bloss warnt vor einer "Mehrheit mit den Anti-Europäern": "Für die Konservativen läuft alles auf die Entscheidung hinaus, ob sie eine proeuropäische Allianz der Mitte anstreben, die uns Grüne mit einschließt."
Posten eines EU-Kommissars für Italien?
Im Europaviertel ist aber auch dieses Szenario zu hören: Ursula von der Leyen könnte der italienischen Ministerpräsidentin für ihr Land einen einflussreichen Kommissarsposten zusichern. Ohne dass darüber öffentlich gesprochen wird, könnte von der Leyen bei der geheimen Wahl mit Stimmen der Meloni-Partei rechnen. Das würde einen Puffer gegen Abweichler schaffen. Die Grünen würden nicht gebraucht. Es ist ein mögliches Szenario.
Mitte Juli, wenn das neue EU-Parlament zur ersten Sitzung zusammenkommt, könnten die Diskussionen mit einer Wahl von der Leyens enden. Bis dahin muss das Getränk für die Siegesfeier noch im Kühlschrank bleiben.