Neue Flüchtlingsrouten "Die Pandemie hat niemanden aufgehalten"
In der Corona-Zeit hat sich die Zahl der Flüchtlingsankünfte in Italien verdreifacht. Dabei zeichnen sich neue Routen ab. Besonders betroffen sind, wieder einmal, Lampedusa und Sizilien.
Während Italien in der Corona-Krise stillstand, hat Luigi Patronaggio Überstunden gemacht. Im Gerichtsgebäude in Agrigent wird er seit Monaten fast täglich gerufen - weil wieder ein Boot mit Migranten auf Sizilien oder Lampedusa landet. "Die Pandemie hat niemanden aufgehalten - weil viele dieser Migranten vor größeren Problemen flüchten. Das Risiko der Pandemie nehmen sie relativ problemlos an."
Patronaggio ist Chef der Staatsanwaltschaft im Süden Siziliens, als einer der prominentesten Anti-Mafia-Ermittler steht er unter Polizeischutz. Aktuell landen vor allem Akten in Sachen Migration auf seinem Schreibtisch. Mit der Südküste Siziliens und der Insel Lampedusa sei er, sagt Patronaggio, für "eine der großen Eingangspforten Europas" verantwortlich - an der er derzeit einen besonderen Andrang feststellt.
Wir haben den Eindruck als Ermittler, dass sich eine neue Migrationsroute geöffnet hat. Aus Libyen und aus Ägypten werden Migranten gezielt nach Tunesien gebracht.
Die meisten Migranten kommen inzwischen aus Tunesien
Über die Grenzen Italiens hinaus bekannt geworden ist Patronaggio als Gegenspieler des ehemaligen Innenministers Matteo Salvini, gegen dessen Widerstand er Schiffen von Nicht-Regierungsorganisationen erlaubte, in Sizilien anzulegen. Derzeit aber, sagt Patronaggio, kämen die meisten Migranten nicht mehr aus Libyen, sondern aus Tunesien nach Italien.
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich laut Innenministerium die Gesamtzahl der Ankünfte in Italien verdreifacht. Der Grund laut Patronaggio: Nicht mehr Milizen in Libyen, die im Strudel des Bürgerkriegs steckten, organisierten die Überfahren, sondern kriminelle Organisationen in Tunesien. Diese arbeiteten nach Einschätzung des Staatsanwalts hocheffektiv und seien in der Lage, in kürzester Zeit mehrere Tausend Menschen nach Europa zu bringen. "In Tunesien werden diese Migranten von tunesischen Subjekten in die Hand genommen, die sehr gut umgehen können mit Fischerbooten", sagt er. Diese Männer seien selbst früher Fischer gewesen und daran gewöhnt, von Sfax oder Monastir nach Sizilien oder Lampedusa zu fahren.
Eine neue Generation von Menschenschmugglern
Mehrfach in den vergangenen Wochen, sagt Patronaggio, sei es dieser neuen Generation von Menschenschmugglern gelungen, ihre Fischerboote mit Migranten unter Deck fast direkt bis an die Küste Siziliens zu steuern: "Es hat sich geändert, dass nicht mehr die Gummiboote aus chinesischer Produktion unterwegs sind, die Luft verloren, sobald sie aus den libyschen Hoheitsgewässer raus waren. Aus Tunesien legen Fischerboote ab, die kaum auffallen zwischen allen anderen, die auf dem Mittelmeer unterwegs sind - und die deswegen von Flugzeugen der Küstenwache, der Finanzpolizei oder von Frontex nicht leicht zu identifizieren sind."
An abgelegenen Stränden würden die Migranten von Bord gelassen. Viele versuchten, sich auf eigenen Faust durchzuschlagen, würden aber häufig von der Polizei aufgegriffen. Die neue Route über Tunesien, sagt Patronaggio, bringe auch neue Probleme mit sich: "Die Tunesier machen zurzeit gemischte Zusammenstellungen. Es sind zum einen Menschen aus dem Subsahara an Bord, die vorher in Libyen oder Ägypten waren. Zum anderen sind es Tunesier, die schon mal aus Italien abgeschoben wurden und Vorstrafen haben. Wir haben eine beträchtliche Zahl von Personen festgenommen, wegen illegaler Wiedereinreise nach Italien."
Viele Vorstrafen unter Ankömmlingen
Zwischen 20 und 30 Prozent der Tunesier, die über die neue Flüchtlingsroute nach Sizilien kämen, sagt Patronaggio, hätten Vorstrafen, vor allem wegen Drogenhandels und Eigentumsdelikten. Der prominente Staatsanwalt aber will keine populistischen Kurzschlüsse. Er wünscht sich, dass Europa mehr tut für die Lebensgrundlagen der Menschen in ihren Heimatländern. Zurzeit gelte, sagt Patronaggio:
Für Fischer ist der Menschenschmuggel deutlich attraktiver als die Fischerei.
Nach den Erkenntnissen Patronaggios bezahlen auf der neuen Migrationsroute Menschen aus der Subsahara rund 2000 Euro, um nach Italien zu kommen, Tunesier rund 1000 Euro. Reguläre Wege nach Europa, so ein weiteres Plädoyer des Anti-Mafia-Staatsanwalts, würden nicht nur bessere Kontrollen ermöglichen, sondern den kriminellen Organisationen ihre Geschäftsgrundlage entziehen.