Bis zu 950 Tote befürchtet Italien fühlt sich alleingelassen
Wie viele Flüchtlinge genau beim Untergang eines Kutters vor Libyen ertrunken sind, steht noch nicht fest. Nur soviel: Es ist wohl die bislang schwerste Katastrophe dieser Art. Während die Helfer immer neue Leichen bergen, erhebt Italien schwere Vorwürfe.
Der Traum von Europa endet auf Malta. Die sterblichen Überreste von 24 Flüchtlingen werden am Morgen von der italienischen Küstenwache auf die Mittelmeerinsel gebracht. Verpackt in weiße Leichensäcke. Draußen auf dem Meer suchen sie weiter nach Opfern. Mehr als 700 sollen es sein. Ein Überlebender spricht gar von 950 Menschen, die an Bord des gesunkenen Kutters waren, viele davon eingeschlossen im Schiffsinneren. Eine tödliche Falle.
In jedem Fall das schlimmste Unglück, seit es die Flucht übers Mittelmeer gibt, sagt Carlotta Sami, Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen: "Schon 700 Menschen sind unvorstellbar. 700, 750 Menschen so zusammenzupferchen... In jedem Fall hat es Hunderte von Opfern gegeben. Damit sind wir seit Jahresbeginn schon bei mehr als 1600 Toten im Mittelmeer angekommen. Das ist eine sehr hohe Zahl."
Fahnen auf Halbmast
Genauere Informationen über die Zahl der Opfer und vor allem den Unglückshergang erwarten sich Hilfsorganisationen und Polizei heute im Lauf des Tages, wenn die wenigen Geretteten im Hafen von Catania auf Sizilien ankommen.
Bürgermeister Enzo Bianco hat die Flaggen in der Stadt auf Halbmast setzen lassen. "Eine Stadt, die bald leider viel zu wenige Überlebende empfängt - wir hätten gern sehr viel mehr aufgenommen -, kann nicht anders, als einen Trauertag ausrufen. Das ist eine kleine Aufmerksamkeit, eine Respektsbezeugung, eine Liebkosung für Menschen, die einen Traum hatten und Hoffnungen hegten", sagt der Bürgermeister.
"Italien tut alles Menschenmögliche"
Catania ist wie ganz Sizilien erprobt in der Aufnahme von Flüchtlingen. Im vergangenen Jahr waren es oft Tausende innerhalb weniger Tage, die hier ankamen. Die italienische Marine leistete im Rahmen der Operation "Mare Nostrum" Seenotrettung.
"Dass 'Mare Nostrum' im vergangenen November aufgegeben wurde, war ein schlimmer Fehler", sagt Flavio di Giacomo von der Internationalen Organisation für Migration. Danach habe es weiter Ankünfte gegeben, nur die Zahl der Toten habe zugenommen. "Es muss auf hoher See einen Mechanismus der Seenotrettung geben und wir hoffen, dass das eine europäische Angelegenheit wird. Italien tut in diesem Moment wirklich alles Menschenmögliche, es kann aber nicht allein gelassen werden", meint er.
Ärger über die EU
Italien darf nicht allein gelassen werden. Das ist der Satz, den man von italienischen Politikern in diesen Tagen am häufigsten hört. Italiens Außenminister Paolo Gentiloni lässt auf dem Weg nach Luxemburg zum EU-Außenministertreffen seinem Ärger über die Untätigkeit der Europäischen Union freien Lauf: "Seit Monaten sage ich, dass Europa mehr tun muss. Leider schlägt uns jetzt das Meer die Situation ins Gesicht. Die Sensibilität und das Bewusstsein für dieses Problem können nur zunehmen."
"Keine fehlende Hilfeleistung"
Doch Italien fordert im Gegensatz zu vielen Hilfsorganisationen weniger ein europäisches "Mare Nostrum", eine EU-Seenotrettung, sondern vor allem einen verstärkten Kampf gegen die Schleuserkriminalität. "Die Tragödie der vorletzten Nacht", sagt Außenminister Gentiloni, "ist nicht durch eine fehlende Hilfeleistung ausgelöst worden. Die Retter waren leider da, als sich die Tragödie abspielte. Wir brauchen also einen politischen Einsatz für die Bekämpfung der Schlepperbanden."
Durch die neuesten Nachrichten aus Libyen wird sich der Minister bestätigt sehen: In der Nacht sollen weitere Flüchtlingsboote von Sabratha und Zawiya westlich von Tripolis aus ins Mittelmeer gestochen sein.