Frage vom 08.04.2011 Sind Fukushima und Tschernobyl vergleichbar?
Die Folgen von Fukushima könnten die von Tschernobyl übertreffen. Ob sie das wirklich tun, ist aber längst nicht klar. Denn es fehlen verlässliche Angaben: Wie viele Menschen erkranken? Wie viele sterben an den Folgen der Verstrahlung?
Die Wahrheit, heißt es, stirbt zuletzt. Das Problem bei Unfällen wie Tschernobyl oder auch Fukushima ist: es gibt sie nicht, die eine, DIE anerkannte Wahrheit. Über die gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl etwa besteht heute, 25 Jahre später, kein allgemeiner Konsens. Daraus folgt: Natürlich könnten die Folgen von Fukushima die von Tschernobyl übertreffen. Ob sie das wirklich tun, ist damit freilich nicht gesagt. Denn was die Folgen sind ist ja strittig.
Zahl der Strahlentoten in der Ukraine bis heute unklar
Bis zu 800.000 Aufräumarbeiter wurden angeblich damals eingesetzt, um den explodierten Reaktor in der Ukraine und seine Umgebung zu säubern. Angeblich wurde nur die Hälfte registriert. Wie viele krank wurden – keiner weiß das unstrittig. Die russische Regierung setzte damals alles dran, das wahre Ausmaß der Katastrophe zu verschleiern. Sicher ist: es gab in der Ukraine, Weissrussland und Russland seither deutlich mehr Schilddrüsenkrebs und Leukämie. Unbestritten starben rund 50 Menschen durch die Strahlenkrankheit. Sie hatten in kurzer Zeit sehr hohe Dosen Radioaktivität erhalten. Die Gesamtzahl der Strahlentoten liegt über 4000, auch das ist aber nur eine umstrittene Minimalzahl für die am stärksten belasteten Regionen um den Unglücksreaktor. Umweltschutzorganisationen nennen insgesamt weitaus höhere Zahlen, teilweise ist von hunderttausenden Toten vor Ort und europaweit die Rede. Was stimmt?
Das Problem dahinter ist vielschichtig. Es bereitet grundsätzlich erhebliche Schwierigkeiten, statistisch gesicherte Zusammenhänge zwischen niedriger Strahlenbelastung und gesteigerten Erkrankungsraten herzustellen. Krebs kann viele Ursachen haben. Jede zusätzliche Strahlenbelastung kann vielleicht der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und eine individuelle Erkrankung auslöst – irgendwann. Vielleicht erst Jahrzehnte später. Und damit kommen dann neben dem Leid des Einzelnen rechtliche und finanzielle Fragen ins Spiel. Wer bezahlt meine Behandlung? Wer zahlt Entschädigung? Wer bezahlt die Versorgung von Hinterbliebenen? Wie sind die Atomkraftwerke versichert? Wer wird evakuiert, wohin und wie lange? Jeder Kilometer mehr Evakuierungszone kostet. Hier wird schnell deutlich: da geht es um viel Geld. Um sehr viel Geld. Und immer wenn es um sehr viel Geld geht, gerät die Wahrheit unter Druck.
Informationspolitik in Fukushima von Anfang an unzureichend
In Fukushima war und ist die Informationspolitik von Betreiberfirma Tepco und Regierung von Anfang an unzureichend. Es gibt einige Fachleute, die hier klare Parallelen zu Tschernobyl ziehen. Im Katastrophenfall wird gelogen, dass sich die Balken biegen, davon kann man als Arbeitshypothese ausgehen. Die Verflechtungen von Atomindustrie und Behörden, auch internationalen, führen auch nicht gerade zu gesteigertem Vertrauen in amtliche Hilfe. Und das ist wohl auch der Hauptgrund, warum engagierte Umweltschützer derzeit vor unterschätzten Folgen des Fukushima-Unglücks warnen. Ob sie damit recht haben oder doch daneben liegen wird vermutlich erst in vielen Jahren deutlich werden. Vorausgesetzt, die Medizinstatistik wird ehrlicher betrieben als in Russland.
Könnte Fukushima Tschernobyl "toppen"?
Fukushima könnte Tschernobyl "toppen“ – gegen diese These spricht, dass die Hauptstrahlenbelastung durch Tschernobyl in den ersten zehn Tagen vor allem durch radioaktive Teilchen mit sehr kurzer Zerfallszeit erfolgte wie Jod 131. Die vergleichbaren Werte liegen in Japan offiziell ungefähr um den Faktor Zehn niedriger. Der Brand im russischen Grafitreaktor schleuderte große Mengen Partikel sehr hoch, so dass sie der Wind großflächig verbreiten konnte. Ein solcher Brand fehlt in Fukushima. Aber dafür befindet sich mit Tokyo ein dicht besiedelter Großraum in gefährlicher Nähe zu den AKW. 250 Kilometer ist nicht viel, einen ersten Vorgeschmack haben die Bewohner bereits kürzlich erhalten, als radioaktives Jod im Trinkwasser der Großstadt nachgewiesen werden könnte. Aufgrund der dichten Besiedlung können selbst kleinere Strahlendosen mehr Krankheiten auslösen und die Sterblichkeit erhöhen. Hochproblematisch ist ferner Reaktorblock 4, weil er das Ultragift Plutonium in größeren Mengen enthält. Das könnte sich noch verbreiten, etwa falls es erneut zu Wasserstoffexplosionen kommen sollte. Bislang ist diese Gefahr keineswegs gebannt.
Angesichts des wilden Cocktails an Zerfallsprodukten, die bei kontrollierten wie unkontrollierten Kettenreaktionen üblicherweise entstehen mutet die bisherige Auswahl der veröffentlichten Messwerte weitgehend auf Cäsium 137 und Jod 131 merkwürdig an. Und noch ein Unterschied zu Tschernobyl: es sind gleichzeitig mehrere Reaktoren betroffen sowie mehrere Abklingbecken mit alten Brennstäben, deren Kühlung auch immer wieder Probleme bereitet. Und was ist mit den über zehn Millionen Litern radioaktiv belasteten Wassers, die gerade erst ins Meer geleitet wurden? Auch wenn der Pazifik alles schnell verdünnt – die Strahlung wird dadurch nicht weniger, nur die Konzentration sinkt.
Folgen erst in Jahrzehnten absehbar
Die Wahrscheinlichkeit erscheint mir persönlich bei Betrachtung all dessen hoch, dass die Reaktorenkatastrophe von Fukushima gravierende gesundheitliche Folgen für viele tausend Menschen haben wird, teilweise erst in Jahrzehnten. Ob wir dazu jemals verlässliche Zahlen erfahren werden, wird stark davon abhängen, ob und wie sich Journalisten und NGO wie Greenpeace vor Ort in den nächsten Monaten bis Jahren um Messwerte und die medizinischen Statistiken kümmern. Angesichts der Traumata, die allein das fürchterliche Beben der Stärke 9,0 und der folgende Tsunami ausgelöst haben, wird eh oft nicht zu trennen sein, was genau die Ursache für zahlreiche Erkrankungen, Fehlgeburten, Todesfälle gewesen ist. Die Wahrheit, heißt es, stirbt zuletzt. Das Leid der betroffenen Menschen wird das nicht lindern.
Die SWR-Uweltredakteure Werner Eckert und Axel Weiß haben im Blog zahlreiche Fragen zu Fukushima beantwortet. tagesschau.de hat diese ursprünglich für das Blog verfassten Texte nun zu einem Dossier zusammengefasst.