Kommunalwahl in der Türkei "Ein ziemlicher Hammer für Erdogan"
Die Niederlagen der AKP in den großen türkischen Städten haben für Präsident Erdogan starke symbolische Bedeutung, sagt ARD-Korrespondent Oliver Mayer-Rüth. Sie könnten sogar sein politisches Ende einläuten, glaubt er.
tagesschau24: Es war eine dramatische Wahlnacht. Die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan bleibt zwar stärkste Kraft, verliert aber in den großen Städten, zum Beispiel in der Hauptstadt Ankara. Wie ist das einzuschätzen?
Oliver Mayer-Rüth: Symbolisch hat das große Bedeutung, dass die AKP nach mehr als 20 Jahren an der Regierung, auch mit ihrer Vorgängerpartei, in Ankara verliert. In der Hauptstadt ist auch der Präsidentenpalast, und Erdogan muss jetzt sozusagen aus seinem Palast heraus regieren - mit dem Bewusstsein, dass die Bewohner dieser Hauptstadt eigentlich in der Mehrheit gegen seine Politik sind.
Außerdem leben in Ankara 5,4 Millionen Menschen, das ist eine Zahl, die eine gewisse Signifikanz für das ganze Land hat.
tagesschau24: Erdogan hat ja noch im Wahlkampf gesagt: "Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei." Nun sieht es ja so aus, als könnte seine Regierungspartei auch hier verlieren. Was bedeutet das für ihn?
Mayer-Rüth: Das ist eigentlich der richtige Hammer bei dieser Wahl. Denn wenn Erdogan Istanbul verliert, dann verliert er eben nicht nur diese 15- bis 16-Millionen-Metropole, sondern er verliert auch ein wichtiges Wirtschaftszentrum.
Sehr viele Steuergelder fließen aus Istanbul in die Staatskasse. Er konnte hier immer auf seine erfolgreiche Wirtschaftspolitik verweisen, die sehr vielen Bauprojekte in Istanbul, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden. In den letzten Jahren wurden Brücken über den Bosporus und viele neuen Siedlungen gebaut.
Aus diesem Grund, und weil es wirtschaftlich mehr Möglichkeiten und Jobs gab, zogen viele Menschen aus Anatolien, Zentralanatolien und Ostanatolien nach Istanbul. Deshalb waren sie auch immer sehr loyal Erdogan gegenüber. Und plötzlich hat er hier offenbar auch nicht mehr die Mehrheit. Man muss natürlich das Endergebnis noch abwarten, aber das ist schon ein ziemlicher Hammer für Erdogan.
tagesschau24: Können denn die gewählten Bürgermeister von der CHP überhaupt ihr Amt antreten, oder werden die Städte eventuell unter Zwangsverwaltung gesetzt, wie man das schon aus den Kurdengebieten kennt?
Mayer-Rüth: Davon kann man nicht ausgehen. Bei den Kurdengebieten hat man ja immer auf die HDP gezeigt und ihr vorgeworfen, dass sie enge Kontakte hätte zu der als Terrororganisation eingestuften PKK.
Mit diesem Vorwand - vielleicht gab es auch die eine oder andere Querverbindung oder tatsächlich auch Kontakte zur PKK - hat man dort eben Zwangsverwalter eingesetzt. Das dürfte aber in Istanbul und in Ankara nur schwer möglich sein. Beide Kandidaten sind von der größten Oppositionspartei, der CHP.
Es gab Drohungen gegenüber Mansur Yavas. Er war ja der Oppositionskandidat in Ankara und hat dort gewonnen. Da hieß es von Erdogan, es gebe Unterlagen, die belegen würden, dass er Steuern hinterzogen hätte. So jemand könne nicht Oberbürgermeister von Ankara werden. Aber gestern Abend, nach dieser Niederlage in Ankara, war Erdogan in diesem Punkt sehr zurückhaltend.
tagesschau24: Blicken wir noch einmal auf die Wahlnacht. Von der Opposition kamen ja Vorwürfe, die Regierungspartei manipuliere Ergebnisse in ihrem Sinne. So hat ja die staatliche Wahlbehörde gestern Abend ab 23 Uhr keine Wahlergebnisse mehr veröffentlicht. Ist das vorstellbar?
Mayer-Rüth: Diese Zahlen werden immer über die halbstaatliche Nachrichtenagentur Anadolu veröffentlicht werden. Und da ist die Frage, ob diese tatsächlich die Zahlen weitergegeben hat. Solche Fragen wurden auch von Oppositionspolitikern gestern Abend immer wieder gestellt, wie man es eigentlich erwarten müsste bei einer demokratischen Wahl. Und deswegen hatten dann die ganzen Fernsehsendungen plötzlich ab einer gewissen Uhrzeit keine neuen Zahlen mehr.
Der Hohe Wahlrat wurde heute Morgen auch gefragt: Was ist eigentlich los mit den Zahlen, die eigentlich über Anadolu kommen müssten? Da hat der Hohe Wahlrat gesagt: "Anadolu? Mit denen haben wir eigentlich nichts zu schaffen." Halbstaatliche Nachrichtenagentur - da ist schon klar, dass da natürlich die Politik spricht.
tagesschau24: Es ist ja die erste Wahl seit der Einführung des Präsidialsystems in der Türkei. Was bedeutet diese Kommunalwahl für Erdogan selbst? Er hat ja einen sehr aggressiven Wahlkampf geführt. Wie geht er mit den Ergebnissen um?
Mayer-Rüth: Sein Machtsystem ist auf alle Fälle erschüttert. Jetzt ist die Frage, ob er aus diesem Tag etwas gelernt hat. Packt er jetzt vielleicht Reformen in Sachen Rechtsstaat und Demokratisierung an? Viele Investoren hat seine Politik der harten Hand auch abgeschreckt. Wird er da jetzt eine weichere Gangart einlegen oder macht er so weiter?
Es gab immer wieder die Gerüchte, dass sich unter Umständen aus dem islamisch konservativen Lager heraus eine neue Partei gründen könnte, die dann eben unter Umständen liberaler auftritt. Wenn dann viele AKP-Anhänger überlaufen würden, dann wäre das ein großes Risiko für Erdogan und langfristig dann unter Umständen auch sein politisches Ende.