Italien vor EU-Gipfel "Das Rechtsstaatsprinzip ist nicht verhandelbar"
Vor dem kommenden EU-Gipfel sind die Fronten im Streit um den Haushalt verhärtet. Italiens Europa-Minister Amendola sagt im Interview zum Streit mit Polen und Ungarn: Die EU müsse zu ihren Grundwerten stehen.
ARD: Ungarn und Polen versuchen, den EU-Haushalt und den Corona-Hilfsfonds zu blockieren. Für Italien stehen insgesamt 209 Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsfonds auf dem Spiel. Macht in Rom das angedrohte Veto Angst?
Vincenzo Amendola: Wir sind sehr gelassen mit Blick auf das, was wir unterzeichnet haben. In der Vereinbarung vom 21. Juli gibt es einen Rechtsstaatsvorbehalt, der auch dank der deutschen Präsidentschaft aufgenommen wurde - und wir halten das für eine gute Vereinbarung. Die Androhung von Vetos macht uns keine Angst. Uns würde ein Europa Angst machen, das auf seine Identität verzichtet, die verknüpft ist mit dem Recht auf Freiheit, Demokratie und Recht. Zu diesem Thema sind sich alle anderen Länder einig. Und ich hoffe, dass Ungarn und Polen ihre Vetos so bald wie möglich fallen lassen.
ARD: Ist Italien zu Kompromissen bereit angesichts der Tatsache, dass für Ihr Land so wichtigen Corona-Hilfsgelder eventuell nicht fließen könnten, wenn Ungarn und Polen bei ihrem Nein blieben?
Amendola: Man kann Rechtsstaatlichkeit und finanzielle Mittel nicht gegeneinander aufwiegen. Die Europäische Union bekennt sich in Artikel 2 des EU-Vertrags zum Rechtsstaatsprinzip. Und das ist nicht verhandelbar oder kann nicht eingetauscht werden gegen Geld. Europa ist einer der bedeutenden Akteure der Welt, wenn es darum geht, für Recht und Freiheit einzustehen. Daher ist es wichtig, dass Europa zu seinen Grundwerten steht.
Vincenzo Amendola ist seit September 2019 Minister für Europa-Angelegenheiten im Kabinett von Ministerpräsident Giuseppe Conte. Amendola ist Mitglied der sozialdemokratischen Partei "Partito Democratico".
Hoffen auf Einsicht
ARD: Sehen Sie eine Möglichkeit, die Corona-Hilfen ohne die Stimmen Ungarns und Polens zu beschließen?
Amendola: Ich hoffe nicht, dass es dazu kommt. Wir gehen in den Europäischen Rat vom 10. und 11. Dezember, um die europäische Vision von gemeinsamen Investitionen für einen Wiederaufschwung nach der Covid-Krise voranzubringen, aber auch um unsere gemeinsamen Grundwerte zu bestätigen. Wir setzen darauf, dass Ungarn und Polen dies auch so sehen.
ARD: Braucht Italien das Geld aus dem Corona-Hilfsfonds der EU, um zu überleben?
Amendola: Nein, aber für Italien sind die gemeinsamen europäischen Investitionen wichtig. Die Next-Generation-Vereinbarung sieht nicht nur nationale Mittel vor. Die Maßnahmen sind auf den gemeinsamen europäischen Markt ausgerichtet, weil wir wissen, dass wir nur dann stärker aus der Krise hervorgehen, wenn wir zusammenstehen. Wenn alle gemeinsam investieren in die Umwelt, in die digitale Zukunft und in den sozialen Zusammenhalt. Es ist richtig, dass wir in Italien mehr Mittel erhalten als andere, weil wir unter der Pandemie besonders gelitten haben. Aber es sind keine rein nationalen Ausgaben, sondern Ausgaben im Rahmen einer europäischen Strategie. Wir sind überzeugt, dass Europa das beste Gegenmittel gegen die Krise ist.
Fokus auf den ökologischen Umbau
ARD: Hat Italien schon Ideen, wie es die Milliarden aus dem Corona-Hilfsfonds verwenden würde?
Amendola: Wir werden wie alle Länder auf den ökologischen Umbau setzen. Beispielsweise mit Investitionen in einen sauberen öffentlichen Nahverkehr, Investitionen in neue Felder wie beispielsweise Wasserstoff. Und wir können uns vorstellen, uns mit Frankreich, Deutschland, Spanien und anderen großen Partnern an europäischen Gemeinschaftsprojekten zu beteiligen, um zusammen in fortschrittliche Energieformen, aber beispielsweise auch in eine neue Generation von Computer-Mikroprozessoren zu investieren. Ich glaube, jeder in Europa muss im eigenen Haus arbeiten, aber wir sollten es mit einer gemeinsamen Vision machen.
ARD: Italien könnte unabhängig vom Next-Generation-Plan noch rund 37 Milliarden Euro für sein Gesundheitssystem aus dem Euro-Rettungsfonds ESM erhalten. Können Sie verstehen, dass es in Europa Unverständnis darüber gibt, dass Italien wegen interner Streitigkeiten in der Koalition dieses Geld nicht in Anspruch nimmt?
Amendola: Italien ist in der Tat das vielleicht einzige Land, in dem es eine hitzige Diskussion über die Kreditlinie für das Gesundheitswesen aus dem ESM gibt. Wir haben Widerstände, und wenn es hierzu keine Mehrheit im Parlament gibt (Anmerkung: Teile der größten Regierungspartei Fünf-Sterne-Bewegung lehnen Hilfen aus dem ESM ab), werden wir als Regierung neu nachdenken müssen. Im Moment hat ja auch noch kein anderes Land die angebotene ESM-Kreditlinie für das Gesundheitswesen aktiviert. Es ist also nicht so, dass die Länder hier Schlange stehen. Letztendlich hat eine Inanspruchnahme auch Auswirkungen auf das nationale Defizit.
"Die Schulden wachsen überall an"
ARD: Können Sie bestätigen, dass Italien im nächsten Jahr eine Schuldenquote von wahrscheinlich fast 160 Prozent haben wird?
Amendola: Das sind die Prognosen, die unseren Planungen zugrunde liegen. In allen Ländern in Europa gibt es in dieser Phase ein Anwachsen der Schulden, weil in der Krise Ausgaben notwendig sind, um den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Mit unseren Investitionen wollen wir ein nachhaltiges Wachstum erreichen und in der Folge auch ein Absenken der Schuldenlast.
ARD: Das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien war zuletzt nicht immer einfach. Hat sich hier in der Corona-Krise etwas verändert?
Amendola: In der Politik gibt häufig Stereotypen. Aber ich glaube, dass die Vereinbarung vom 21. Juli über den Corona-Hilfsfonds, die von zwei deutschen politischen Leadern, von Ursula von der Leyen und Angela Merkel gemeinsam mit Christine Lagarde maßgeblich ausgehandelt und unterschrieben wurde, ein sehr starkes Signal gewesen ist. Fakten sind dann manchmal stärker als Stereotypen.
Das Gespräch führte Jörg Seisselberg, ARD-Studio Rom