Reportage aus einem Scharia-Gericht Die Milde der Justiz in Zeiten des Krieges
Die einzigen Orte in Aleppo, wo es so etwas wie Rechtsprechung gibt, sind die Scharia-Gerichte der syrischen Opposition. Wegen des Krieges wird das Gesetz nicht mit voller Härte angewendet. Das soll sich aber ändern - und wäre dann die islamistische Alternative zu Assads Folterzellen.
Von Martin Durm, SWR
Richter Abu Amar ist zweifellos ein höflicher Mann. "Willkommen", sagt er und legt sich zum Zeichen der Gastfreundschaft die rechte Hand auf die Brust. Wir sind in einem Scharia-Gericht im Osten Aleppos, den die Rebellen beherrschen. Die fünf Scharia-Gerichte, die es hier gibt, sind derzeit der einzige Ort, wo es so etwas wie Rechtsprechung gibt. Islamische Rechtsprechung versteht sich - nicht das, was in bürgerlichen Gesetzbüchern steht.
Um uns herum, auf den Fluren, in den Sälen - nur Männer, bärtige Männer. Die langen dünnen Barthaare Amars hängen wie angeklebt an seinem Kinn. Er streichelt sie unentwegt, während er uns über seine Kompetenzen als oberster Scharia-Richter aufklärt: Er habe an der Universität Arabisch studiert und danach ein kleine Textilfabrik aufgebaut, er mache Kleider. "Aber ich musste die Fabrik schließen, um hier als Richter zu arbeiten und die Probleme meines Landes zu lösen."
Das Hauptproblem ist der Bürgerkrieg, das lässt sich vorerst nicht lösen. Aber auch im Krieg gibt es jede Menge alltäglicher Streitereien und Scherereien, die irgendwie geklärt werden müssen: Scheidungen, Erbschaften, offene Rechnungen. An diesem Tag wird nebenan in Saal 4 ein Konflikt um ausgebliebene Mietzahlungen ausgetragen: "Der Mieter bekommt noch einen Monat Frist zugestanden", erklärt der zuständige Scharia-Richter und schickt die Kontrahenten nach Hause.
Vorboten eines künftigen islamistischen Staates?
Mit juristischen Verfahren hat das wenig zu tun, eher mit ausgehandelten Kompromissen, die gerade in Krisenzeiten sinnvoll und notwendig sind. Die Frage ist nur, ob mit diesen Scharia-Gerichten in Rebellengebieten nicht schon Fundamente für einen künftigen islamistischen Staat gelegt werden sollen. Sie folgten dem islamischen Gesetz, sagt Amar. Aber sie legten es nicht in seiner ganzen Strenge aus, weil Krieg sei. "Die Leute müssen überleben", sagt er. "Wenn jemand stiehlt, wenden wir nicht gleich die entsprechende Körperstrafe an."
Die Körperstrafe der Scharia für Diebstahl ist "Abhacken der rechten Hand". Aber wie zum Beweis für seine temporäre Milde lässt uns Amar in eine der Gefängniszellen hinein schauen. Ein dunkler Raum im Kellergeschoß, geräumig, mit Teppichen ausgelegt: Sechs Männer sitzen dort auf dem Boden, vor ihnen ein Scheich, der ihnen gerade was vorpredigt: "Ihr müsst viel beten. Gott wird euch eure Sünden vergeben, wenn ihr die islamischen Vorschriften befolgt."
"Wir mögen die Scharia in voller Strenge"
Dann muss einer der Häftlinge aufstehen und den deutschen Journalisten erklären, was er hier schon alles gelernt hat: "Los, sag ihnen, wer du bist, was du getan hast und wie Assad sein Volk quält!", befiehlt der Scheich. Er heiße Schaer, sagt der Junge, er sei 18 Jahre alt und in ein Elektrogeschäft eingebrochen. "Wir hatten zuhause nichts mehr zu essen." Zwei Monate muss er hier absitzen, dann kommt er raus. Danach werde er "beten und fasten".
Es muss nicht, aber es könnte die Zukunft Syriens sein: Scharia-Gerichte, Indoktrination im Gefängnis, verängstigte Häftlinge. Das wäre dann die islamistische Alternative zu den Folterzellen des Assad-Regimes.
"Was werdet ihr mit Dieben tun, wenn der Krieg einmal vorbei ist und ihr an der Macht seid?", fragen wir Amar. "Werdet ihr die Sharia mit voller Strenge anwenden?" Ja, sagt Amar, denn das sei ihr Recht. "Auch wenn es euch im Westen nicht passt. Wir müssen es tun, wir mögen es."