Ahmed Staifi steht zwischen den Trümmern eines Hauses, in dem seine Familie nach einer Explosion in Beirut getötet wurden.
Interview

Libanon nach der Explosion "Es geht vor allem ums Überleben"

Stand: 11.08.2020 16:51 Uhr

Eine Woche nach der Explosion von Beirut kämpfen viele Bewohner weiter mit den Folgen der Detonation. Der Journalist Bajjaly berichtet im tagesschau.de-Interview von alltäglichen Nöten, anhaltender Solidarität und politischen Träumen.

tagesschau.de: Was ist im Alltag derzeit für Sie das größte Problem - gibt es einen besonderen Mangel?

Philip Bajjaly: Am stärksten von den Folgen der Explosion betroffen sind weiterhin diejenigen, die nun eine Bleibe suchen oder in einem stark zerstörten Haus wohnen. Nicht jeder hat sein Haus verlassen, viele wollten in ihrer alten Unterkunft bleiben und müssen nun mit den Folgen der Zerstörungen zurechtkommen. In diesen Häusern mangelt es an Wasser und Elektrizität und sanitären Einrichtungen.

Diese Menschen müssen sich irgendwie durchschlagen, bis die Hilfe, die jetzt angelaufen ist, sie erreicht. Die Stadt ist aber sehr voll und die Straßen verstopft, da der Hafen und seine Umgebung aus Sicherheitsgründen abgeriegelt sind.

tagesschau.de: Nicht zuletzt die Infrastruktur muss also wieder in Gang gesetzt werden. Haben Sie den Eindruck, dass hier die richtigen Maßnahmen ergriffen werden?

Bajjaly: Freiwillige und technische Hilfskräfte versuchen, an allen Ecken und Enden provisorische Maßnahmen zu ergreifen, damit das Leben wieder einigermaßen funktioniert. Aber die Schäden betreffen große Flächen; da nutzt es nicht, wenn man in einzelnen Haushalten etwas repariert. Da muss die Infrastruktur ganzer Viertel wieder in Gang gesetzt werden. Im Moment geht es vor allem darum, dafür zu sorgen, dass die Menschen mit Lebensmitteln und Wasser versorgt werden. Es schläft fast niemand auf der Straße oder in Hauseingängen, die meisten sind irgendwo untergekommen.

Viele packen mit an

tagesschau.de: Wer organisiert die Hilfe?

Bajjaly: Die Hilfe lebt von der Kraft der Einheimischen, der Freiwilligen, die unermüdlich Tag und Nacht arbeiten – auch jetzt noch, eine Woche nach der Explosion. Von der internationalen Hilfe, von von großen Aufräumbaggern oder ähnlichem, sehen wir noch nicht viel, aber wir wissen auch, dass das immer ein paar Tage dauert. Es geht derzeit vor allem ums Überleben.

Libanesische Jugendliche helfen die Decke eines beschädigten Gebäudes in der Nähe des Hafens von Beirut zu stützen.

Helfen, wo es geht und mit anpacken: Die Solidarität in der Bevölkerung Beiruts ist weiter ungebrochen.

tagesschau.de: Das Gesundheitssystem war am Anfang von der großen Zahl von Toten und Verletzten völlig überfordert. Wie sieht es damit inzwischen aus?

Bajjaly: Es werden inzwischen an einigen Orten kleinere und größere Feldlazarette errichtet, in einem Stadion, auf einem Universitätscampus. Auch dort helfen Freiwillige.

Coronavirus breitet sich aus

tagesschau.de: Laut WHO breitet sich nun auch das Coronavirus in Beirut aus. Haben Sie den Eindruck, dass es genügend Schutzmöglichkeiten für die Bevölkerung gibt?

Bajjaly: Die Anzahl der Fälle hat einen Höchststand seit Wochen erreicht, und das war angesichts des Ausmaßes der Krise auch nicht anders zu erwarten. Jeder trägt eine Maske, viele tragen Handschuhe – aber man kann in einer solchen Situation nicht immer den Abstand wahren. Aber das kommt natürlich zu den bestehenden Problemen hinzu – der Libanon hat im Moment mit vielen Problemen gleichzeitig zu kämpfen.

Libanesische Freiwillige verteilen Lebensmittel in der Nähe des Hafens von Beirut.

Wenn es nicht anders geht, werden Lebensmittelspenden mit Schubkarre in die notleidenden Viertel gebracht.

Die Hoffnungen und Träume der Demonstranten

tagesschau.de: Sie beschreiben eine immense Hilfsbereitschaft, Solidarität – zugleich sehen wir täglich Bilder von Demonstrationen und Ausschreitungen. Nun ist die Regierung zurückgetreten. Glauben Sie, dass nun ein dauerhafter politischer Wandel einsetzt?

Bajjaly: Mit dem Rücktritt ist die erste Forderung der Demonstranten erfüllt worden, weshalb die Wut wahrscheinlich etwas abebben wird. Vermutlich werden die Demonstranten nun die Auflösung des Parlaments fordern. Zwar haben einige Abgeordnete schon ihr Mandat niedergelegt, aber es ist kaum vorstellbar, dass das alle tun werden. Und die Bildung eines neuen Parlaments ist kompliziert.

Viele Demonstranten sind große Idealisten. Sie wollen, dass die korrupte Schicht von Politikern die Macht abgibt. Diese kontrolliert aber das Land - ob nun mit oder ohne Ämter und Mandate. Ohne sie wird sich im Land nichts bewegen. Und sie werden kaum andere Politiker nach vorne kommen lassen. Auch ein neues Parlament mit frischen Kräften würde auf große Schwierigkeiten treffen und Mühe haben, die Exekutive umzubauen. Deswegen formulieren die Demonstranten einen idealistischen Traum – irgendwann muss man mit irgendetwas ja anfangen.

tagesschau.de: Haben Sie die Hoffnung, dass sich nun etwas zum Besseren wenden wird?

Bajjaly: Ich persönlich bin pessimistisch. Als Libanese bin ich stolz auf die Demonstrationsbewegung und ihren Kampf für ein besseres Regierungssystem. Von der Korruption im Land wussten wir alle. Aber dass man jetzt aufsteht und sagt: "Wir machen da nicht mehr mit", finde ich klasse.

Doch selbst wenn eine neue Generation von nicht korrupten Politiker jetzt an die Macht käme, würde es sehr lange dauern, die Korruption zu besiegen. Viele Menschen kennen es ja auch gar nicht anders und sind daran gewöhnt. Ich wünsche der Demonstrationsbewegung alles Gute und werde weiter auf die Straße gehen. Aber irgendwann muss man Bilanz ziehen und schauen, was es gebracht hat.

Philip Bajjaly ist freier Journalist in Beirut. Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 11. August 2020 um 17:00 Uhr.