Ein Jahr Vertrag von Lissabon Von Feierlaune keine Spur
Feuerwerkskörper verkündeten vor einem Jahr das Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags. Doch zum Feiern ist in Brüssel kaum jemandem zumute. Die EU verliert sich im Machtgerangel - und Ratspräsident Van Rompuy steht im Schatten der einflussreichen Staatenlenker.
Von Christoph Prössl, NDR-Hörfunkstudio Brüssel
Als vor einem Jahr der Vertrag von Lissabon in Kraft trat, hofften viele, dass Europa nun auch ein Gesicht erhalten werde. Und zwar das des Präsidenten des Europäischen Rates. Dieser steht einer illustren Institution vor, der Versammlung der Staats- und Regierungschefs.
Er sollte Mister Europa sein. Der Mann, den die Staatenlenker der Welt anrufen, wenn sie mit Europa reden wollen. Die Person, an die die Bürger denken, wenn sie sich fragen, wer denn da ganz oben an der Spitze steht.
"Der mit den grauen Haaren"
Den Posten übernahm der Belgier Herman Van Rompuy - ein eher unscheinbarer Politiker. Und die Antwort auf die Frage, wer Van Rompuy ist, fällt bei den Bürgern ernüchternd aus: "Da bräuchte ich mal Hilfe, glaube ich." - "Ich weiß es auch nicht." - "Der mit den grauen Haaren, der niederländisch aussieht." So die Aussagen bei einer Straßenumfrage.
"Herman Van Wer?", lautet ein Witz, den Politiker und Mitarbeiter in den EU-Institutionen immer wieder gerne machen. Der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff sagt dazu: "Es ist für keinen Ratspräsident leicht, dieses Amt auszuüben, denn die Staats- und Regierungschefs überlassen sehr ungern anderen das Rampenlicht. Van Rompuy hat mit seiner eher bescheidenen Art gute Voraussetzungen mitgebracht." Europa könne er aber nur mit dem Rückhalt der Staats- und Regierungschefs weiterbringen.
Politik beim Strandspaziergang
Doch diesen Rückhalt hat er offenbar nicht. Geht es um die wichtigen Entscheidungen in der EU, dann trifft sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und vereinbart mit ihm einen Kompromiss. Jüngstes Beispiel: der Rettungsmechanismus für EU-Krisenstaaten nach 2013. Was die EU-Mitgliedsländer als Beschlussgrundlage annehmen mussten, hatten Merkel und Sarkozy bei einem Strandspaziergang im französischen Kurort Deauville ausgemacht.
Kritik an dieser politischen Praxis kommt aus dem Europäischen Parlament - von Martin Schulz, dem Fraktionschef der Sozialdemokraten: "Die Realität in Europa sieht so aus, dass die EU in drei Teile zerfällt." Dieses Trio setzt sich laut Schulz zusammen aus: Deutschland und Frankreich, den anderen Euroländern und denjenigen EU-Staaten, die nicht zur Eurozone gehören.
Kritik wie die von Schulz ist nicht verwunderlich. Denn auch das Parlament kämpft seit einem Jahr um mehr Rechte, die der Vertrag von Lissabon ihm zuerkennt. Zum Beispiel beim Swift-Abkommen mit den USA. Hier verhandelte das Parlament hart, damit Daten über Finanztransaktionen nur mit höheren Datenschutzstandards weitergegeben werden.
Brüssel wird mit kleinlichem Streit gleichgesetzt
Ein Jahr nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages ist für Thomas Fischer von der Bertelsmann-Stiftung klar: Man könne nicht sagen, das Europäische Parlament habe in diesem oder jenem Fall an Macht gewonnen. Vielmehr gebe es "ein völlig neues Gleichgewicht zwischen den Institutionen".
Also zwischen Rat, Kommission und Parlament. Und vor allem gibt es Streit, denn die Organe rangeln noch immer um Einfluss. Die Gefahr dabei: Was die Bürger aus Brüssel wahrnehmen, sind kleinliche Streitigkeiten, in denen sich die Beteiligten aufreiben, meint Fischer.
Das Parlament kämpft um mehr Mitsprache, Van Rompuy will das neue Amt mit Leben füllen - und die großen Mitgliedsländer machen Politik. Happy Birthday, Vertrag von Lissabon!