Interview zu den Protesten in Frankreich "Alle haben Angst um ihre Zukunft"
Die Studenten fürchten um ihre soziale Sicherheit, ihre Eltern um die Zukunft ihrer Kinder, die Gewerkschaften um die Garantie fester Arbeitsverträge. Motor für die Proteste in Frankreich gegen das neue Arbeitsmarktgesetz CPE, das die Kündigung von jungen Menschen unter 26 ohne Begründung erlaubt, seien diese Ängste, so der französische Soziologe und Arbeitsmarktexperte Francois Dubet gegenüber tagesschau.de. Ihre Ziele seien jedoch nicht dieselben. Auch die jungen Leute, die vor kurzem in den Vorstädten protestiert hätten, verfolgten andere Interessen.
Die aktuellen Demonstrationen könnten noch Wochen dauern, meint der Universitätsprofessor aus Bordeaux. Er schließt eine große politische Krise in Frankreich nicht aus, die der jetzigen Regierung alle Wahlchancen im Jahr 2007 nehmen könnte.
tagesschau.de: Wer genau geht eigentlich in Frankreich in so vielen Städten auf die Straße und protestiert?
Dubet: Die Demonstranten sind zuallererst Studenten und Schüler und daneben auch Gewerkschafter, die gegen den CPE demonstrieren, weil sie glauben, dass ihre Arbeitnehmerrechte beschnitten werden. Die einen wie die anderen identifizieren sich im Allgemeinen mit der Linken und der extremen Linken. Das führt dazu, dass Spannungen am Ende der Demonstrationen auftreten zwischen denen, die härter vorgehen möchten und den anderen, gemäßigten.
tagesschau.de: Gibt es ein generelles Gefühl der Solidarität unter den Demonstranten?
Dubet: Natürlich existiert eine Solidarität unter den jungen Erwachsenen, die sich alle einig sind, den CPE abzulehnen. Denn sie glauben alle, dass durch das Gesetz die soziale Unsicherheit institutionalisiert wird. Aber man muss auch daran erinnern, dass die Studenten nur einen Teil der Jugendlichen ausmachen, nämlich den der Mittelklasse. Sie fürchten sich vor einer unsicheren Zukunft und Ausschluss aus dem sozialen Leben.
Das beides existiert aber bereits für eine andere Schicht von jungen Leuten, nämlich denen aus der Unterschicht und den Vorstädten. Die haben im letzten Herbst bereits massenhaft revoltiert und sind in Wirklichkeit weit entfernt von den Studenten, auch wenn alle zusammen Angst um ihre Zukunft haben. Die einen sind noch in der Gesellschaft integriert und haben Angst vor sozialer Unsicherheit, die anderen sind bereits von ihr ausgeschlossen.
Auf Gewerkschaftskongressen populär: Radikalität
tagesschau.de: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften bei dieser Auseinandersetzung?
Dubet: Die studentische Protestbewegung gegen den CPE ist ohne Zweifel eine große Überraschung für die Gewerkschaften, die in Frankreich relativ schwach sind. Sie sind quasi immer automatisch im öffentlichen Dienst sowie einigen großen Unternehmen zu finden. Die Gewerkschaften verteidigen zuallererst ihre Besitzstände, in erster Linie das Recht auf einen festen, unbefristeten Arbeitsvertrag. Deshalb sehen sie eine Gefahr für ihre Klientel im CPE. Im Windschatten der studentischen Proteste verfolgen sie aber vor allem auch organisationsinterne Interessen, um so zu neuer Einheit und Radikalität am Vorabend zahlreicher Gewerkschaftskongresse zu finden. Und bei denen ist Radikalität immer populär.
Doch im Grunde kann man nicht davon ausgehen, dass die studentischen Proteste und die Gewerkschaften die gleichen Interessen verfolgen. Denn insbesondere die entschiedene Verteidigung fester Arbeitsverträge der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zieht als Konsequenz soziale Unsicherheit für die Jugendlichen nach sich. Denn diese brauchen einen flexiblen Arbeitsmarkt, wenn sie sich das erste Mal als Arbeitskraft „anbieten“ müssen.
tagesschau.de: Was sind die genauen Ziele der Demonstranten? Geht es nur um die Rücknahme des Gesetzes?
Dubet: Die Frage ist schon längst nicht mehr, ob der CPE eine gute oder schlechte Maßnahme darstellt. Es ist bereits eine schlechte Maßnahme, weil das Gesetz die Angst vor sozialer Unsicherheit symbolisiert. Deshalb die heftige Ablehnung. Selbst wenn die große Mehrheit der jungen Erwachsenen letztendlich irgendwann einen festen Arbeitsplatz finden würde, wissen sie, dass dies sehr schwierig sein wird. Und vor allem: Eine große Anzahl von Studenten wird eine Arbeit haben, die unter ihren Ausbildungsniveaus liegt oder gar nichts damit zu tun hat. Zudem belegen Umfragen, dass die Franzosen sehr pessimistisch sind und glauben, dass es morgen schlimmer sein wird als heute. Das belastet die Leute persönlich, auch diejenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt integrieren konnten.
Krise könnte Regierung Sieg bei der Wahl 2007 kosten
tagesschau.de: Wie lange werden die Proteste andauern, wenn die französische Regierung bei ihrer Haltung bleibt, das Gesetz nicht zu verändern?
Dubet: Es kann eine sehr lange Periode mit Streiks und Demonstrationen geben, vielleicht wie im Dezember 1995. Je länger die Auseinandersetzungen andauern, desto schwieriger wird es für die Studenten, die Gewaltbereitschaft und Radikalisierung eines Teils der Jugendlichen unter Kontrolle zu halten. All das kann noch einige Wochen andauern und in jedem Fall sind die Franzosen davon überzeugt, dass die Regierung dafür verantwortlich ist. Das gilt auch für die Eltern, die sich natürlich um die Zukunft ihrer Kinder Sorgen machen.
Eine große politische Krise ist nicht auszuschließen, die die Regierungsmehrheit ihre Wahlchancen bei der Präsidentschaftswahl 2007 kosten könnte. Es wäre weise anzuerkennen, dass die Frage nach Arbeit für die Jungen ein zentrales Problem darstellt und von Gewerkschaften, Schulen, Ausbildungseinrichtungen und den Unternehmen erwartet werden kann, eine neue Politik auf den Weg zu bringen. Andere Länder in Europa haben das auch geschafft - warum nicht auch Frankreich?
Das E-Mail-Interview führte tagesschau.de-Redakteurin Nea Matzen