Verhandlungen auf dem EU-Gipfel "Dabei werden die Hosen heruntergelassen"
Den Staats- und Regierungschefs steht in Brüssel ein hartes Ringen bevor. Klären sie dabei die Streitfragen unter sich oder sitzen ihre Mitarbeiter mit am Tisch? Was bekommen die Journalisten von den Schachzügen mit? Und wie viel steht vorher fest? MDR-Hörfunkkorrespondent Michael Becker schildert tagesschau.de, wie verhandelt wird.
tagesschau.de: Wir haben noch den G8-Gipfel in Heiligendamm vor Augen, bei dem die Journalisten die meiste Zeit acht Kilometer von den Politikern entfernt im Pressenzentrum saßen. Läuft es bei den EU-Gipfeln ähnlich ab?
Michael Becker: Nein, wir sind deutlich näher dran – allein schon räumlich. Wir sitzen im selben Gebäude wie die Staats- und Regierungschefs, wenn auch ein paar Etagen tiefer. Natürlich ist der Bereich abgesperrt, in dem verhandelt wird, aber der Informationsfluss ist doch erheblich besser als beim G8-Gipfel. Es kommen häufiger die Regierungssprecher oder andere Vertreter der einzelnen Delegationen nach unten in den Pressesaal und berichten über den Stand der Verhandlungen. Natürlich nur aus ihrer nationalen Sicht – da muss man dann als Journalist aufpassen, dass man nicht manipuliert wird.
tagesschau.de: Wer sitzt hinter den verschlossen Türen? Sind es nur die Staats- und Regierungschefs selbst?
Becker: Es kommt ein wenig darauf an, in welchem Stadium der Verhandlungen man gerade ist, aber es sind normalerweise wesentlich mehr Leute als nur die Staatschefs im Raum. Auch beim Abendessen gibt es zum Beispiel eine zweite Reihe, die den Politikern souffliert, wenn es darauf ankommt. Bei den eigentlichen Arbeitssitzungen sind große Delegationen mit im Raum. Wichtig sind vor allem die EU-Botschafter der einzelnen Staaten, weil sie die Details der Verhandlungen bis in die Tiefe kennen, und die Regierungschefs an den entsprechenden Stellen briefen können.
tagesschau.de: Beim G8-Gipfel standen die meisten Ergebnisse schon vorher fest - bei der EU scheint jetzt noch alles offen. Stimmt dieser Eindruck?
Becker: Generell ist es so, dass Gipfel – ob von der EU oder den G8 – zum großen Teil vorher ausgehandelt sind. Man erlebt bei keiner Veranstaltung so wenig Überraschungen, wie wenn die Staats- und Regierungschefs zusammensitzen. Nichtsdestotrotz ist jetzt gerade bei diesem Gipfel noch relativ viel offen: Es soll noch 15 Punkte geben, die vorab nicht geklärt werden konnten und jetzt Chefsache sind. Es ist also noch eine ganze Menge offen, darunter die spannende Frage, ob es künftig einen europäischen Außenminister geben und wenn ja, wie dieser Posten genannt wird – Außenminister nämlich wahrscheinlich nicht mehr.
tagesschau.de: Es ist aber auch nicht das erste Mal, dass es beim Gipfel hart auf hart kommt ...
Becker: Ganz spannend war es gegen Ende der britischen Ratspräsidentschaft 2005. Damals ging es um die Finanzen der Europäischen Union. Bis zur letzten Minute wurde um jede Kommastelle hart gerungen, und es war bis zuletzt völlig offen, ob es einen Kompromiss geben würde. Am Ende hat es dann doch geklappt – nach quälend langen Verhandlungen. Auch das berühmte Beichtstuhl-Verfahren spielte damals wieder eine Rolle: Die Ratspräsidentschaft – diesmal wäre es also Frau Merkel – trifft sich dann mit den "Problemfällen" unter den Mitgliedsstaaten zu Vier-Augen-Gesprächen.
Dabei werden wirklich die Hosen heruntergelassen und ganz klar gesagt, was für die Verhandlungspartner möglich ist, was nicht, und warum nicht. Ähnlich war es auch beim Frühjahrsgipfel in diesem Jahr: Vorher war nicht klar, ob sich die EU-Staaten auf festgesetzte Klima-Ziele einigen. Da hat sich auch während des Gipfels noch eine Menge bewegt.
tagesschau.de: Bekommen Sie als Journalist mit, welche Rolle abseits von inhaltlichen Fragen Verhandlungsgeschick und psychologischer Druck hinter den Kulissen spielen?
Becker: Das ist von außen immer ganz schwer zu beurteilen. Eine gerne gestellte Frage ist auch, ob die Verhandlungsteilnehmer in den internen Runden gegentlich lauter geworden sind. Hundertprozentig beantworten kann man das nie. Wir wissen aber, dass die Ratspräsidentschaft bei den Gesprächen gerne einmal jemand anders vorschickt: Für Angela Merkel wäre es sicher schwierig, mit erhobenem Zeigefinger auf die polnische Regierung loszugehen. Die Deutschen instrumentalisieren in solchen Fällen gerne den luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker, der schon sehr lange in der Runde der Staats- und Regierungschefs sitzt und dort sehr respektiert ist. Er kann am Tisch viel leichter die Rolle des Mahners übernehmen als die Ratspräsidentschaft, die moderieren muss.
Die Fragen stellte Fiete Stegers, tagesschau.de