Türkeiforscher Sen im Interview mit tagesschau.de "Neuwahlen sind der einzige Weg"
Der Chef des Essener Zentrums für Türkeistudien, Sen, glaubt weder an einen Putsch noch an die weitere Alleinherrschaft der islamistischen AKP. Im tagesschau.de-Gespräch erklärt er, wer in dem Machtspiel wer ist – und warum Neuwahlen der beste Weg aus der Krise sind.
Mehr als eine Million Menschen haben in dieser Woche in Istanbul gegen die "schleichende Islamisierung" demonstriert. Aktueller Anlass war die Präsidentenwahl, doch die Krise könnte leicht in eine vorgezogene Parlamentsneuwahl münden. Am Essener Zentrum für Türkeistudien betrachtet man die Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit. Institutschef Faruk Sen erklärt im Gespräch mit tagesschau.de, wer in dem verwirrenden Machtspiel wer ist – und warum Neuwahlen der beste Weg aus der Staatskrise sind.
tagesschau.de: Professor Sen, Sie sind momentan in Istanbul, weil dort eine deutschsprachige Universität gegründet wird. Wie haben Sie den gestrigen Tag erlebt?
Faruk Sen: Wir standen im Verlagshaus der "Hürriyet" auf dem Balkon und haben die Demonstration beobachtet. Auf den Straßen und Plätzen war kein Durchkommen mehr. Bis zu 1,5 Millionen Menschen sollen demonstriert haben, zwei Drittel davon waren Frauen, viele mit der türkischen Fahne.
tagesschau.de: Was wird – angesichts eines solchen Drucks – aus der angefangenen Präsidentenwahl?
Sen: Ich glaube nicht, dass Staatspräsidentenwahlen in diesem Klima noch einen Sinn haben. Neuwahlen sind der beste, der einzige Weg.
tagesschau.de: Ministerpräsident Erdogan spricht heute Abend im Fernsehen zur Nation. Was glauben Sie, was er sagen wird?
Sen: Neuwahlen kann er heute noch nicht ankündigen, weil er in jedem Fall auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts warten muss. Diese wird für morgen erwartet. Ich gehe davon aus, dass er Kritik an den Militärs üben wird und sich um Versöhnung mit dem Volk bemüht.
Nur Islamisten dürfen noch Beamte werden
tagesschau.de: Das Militär hatte sich zu Wort gemeldet und angemahnt, dass die weltliche Gesellschaftsordnung in der Türkei beibehalten werden muss. Militär oder Islamisten – das hört sich an wie die Wahl zwischen Pest und Cholera ...
Sen: Ich glaube, dass beide Gefahren nicht eintreten. Die Militärs werden nicht putschen – das würde das türkische Volk nicht akzeptieren. Und die islamistischen Tendenzen werden zurück gehen. Erdogan hat begriffen, dass die Militärs das nicht schlucken würden.
tagesschau.de: "Schleichende Islamisierung" – so lautet der Vorwurf an die Regierung Erdogan. Was bedeuet das eigentlich?
Sen: Gemeint ist damit, dass der Geburtstag Mohammeds öffentlich und quasi von Staats wegen gefeiert wird, unter anderem an den Schulen. Aber das ist nur ein Beispiel von vielen: Momentan kann nur in den öffentlichen Dienst eintreten, wer ein Anhänger von Erdogans islamistischer Partei AKP ist. Betroffen davon sind Lehrer, Beamte und andere Staatsdiener.
Deshalb auch die heftige Reaktion auf einen Staatspräsidenten Gül: Die drei obersten Diener des Volkes – Minister-, Parlaments- und Staatspräsident - wären dann Islamisten. Das ist schwer bis unmöglich zu schlucken. Zumindest der Staatspräsident – das Amt ist heilig , auch wenn es keine Macht beinhaltet – soll laizistisch sein, oder wenigstens farblos.
tagesschau.de: Was sind das für Menschen, die gestern in so großer Zahl demonstriert haben?
Sen: Das waren Anhänger einer laizistischen, säkularen Türkei. Vielleicht haben sie die AKP gewählt, aber sie wollten nicht den weltlichen Staat abschaffen und durch eine islamistische Türkei ersetzen.
tagesschau.de: "Weltlich orientiert" ist das eine. Wie sieht es mit "demokratisch" aus?
Sen: Demokraten sind diejenigen, die gegen die islamistische Regierung auf die Straße gegangen sind. Die Islamisten sind keine Demokraten.
tagesschau.de: Aber die AKP Erdogans ist doch demokratisch an die Macht gekommen ...
Sen: Sicher, doch allein 34 Prozent der türkischen Wähler sind nicht zur letzten Wahl gegangen. Die AKP hat also mit einem Drittel der Wahlberechtigten die absolute Mehrheit im Parlament. Das ist nicht hinnehmbar.
Keine Erwartungen ans Ausland
tagesschau.de: Was erwarten die säkularen Türken vom westlichen Ausland sowie der EU?
Sen: Überhaupt nichts. Gerade wegen des aus türkischer Sicht entäuschend verlaufenen Dialogs mit der EU gibt es keine Erwartungen ans westliche Ausland. Gerade noch 40 Prozent der Türken wollen in die EU.
tagesschau.de: Es kann niemand erwarten, die AKP abzulösen, wenn es zu Neuwahlen kommt. Wozu also das Parlament neu wählen?
Sen: Die AKP wird möglicherweise wieder stärkste Kraft. Aber, so hoffen die politischen Gegner, sie wäre dann wohl zu einer Koalition gezwungen.
tagesschau.de: Wie passen eigentlich die Nationalisten, die unter anderem den Journalisten Dink ermordet haben, in die politische Landschaft, die wir bisher skizziert haben?
Sen: Überhaupt nicht. Diejenigen, die jetzt demonstrierten, waren keine Nationalisten. Diese waren nicht bei den Demonstrationen vertreten. Übrigens waren auch nur ganz wenige Sozialdemokraten dabei, die haben die Menschen auch sehr enttäuscht, als sie das letzte Mal an der Macht waren.
tagesschau.de: Stellt sich die Frage, wer aus dem Parteienspektrum eigentlich mehr Macht bekommen soll? Islamisten, Nationalisten und Sozialdemokraten ja offenbar nicht.
Sen: Die Opposition soll die Regierungspartei nur schwächen, sie in eine Koalition zwingen. Man ist unter den Demonstranten gegen die Regierung, aber auch gegen die Opposition. Das ist ja das türkische Dilemma.
Die Fragen stellte Christian Radler, tagesschau.de