Ein Ort der Erinnerung "Endlich hatte die Ungewissheit ein Ende"
Erst seit den 90er Jahren bekommen die Angehörigen peu à peu konkrete Antworten auf ihre Fragen, die sie mehr als 40 Jahre umsonst gestellt haben. Alle Namen der Deutschen, die in Moskau verscharrt wurden, sind erst seit wenigen Monaten bekannt. Nun erinnert ein Gedenkstein auf dem Donskoje-Friedhof an die Opfer des Stalinismus.
Im Jahr 1996 erhält die Familie von Arno Franke ein Schreiben vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Erst jetzt wissen sie, dass der Vater im Dezember 1950 erschossen wurde. So geht es vielen der Angehörigen. Fünf Jahre später erfährt Familie Franke den Namen eines Mithäftlings des Vaters. Er erzählt ihnen erstmals von der gemeinsamen Zeit im Schweriner Untersuchungsgefängnis und den bedrückenden Haftbedingungen am Demmlerplatz. Ein Schock für Jürgen Franke: „Man macht sich schon Gedanken, wie er unter den Schlägen gelitten hat und zermürbt wurde.“
Christoph Priesemann trifft sich im Jahr 2004 mit anderen Hinterbliebenen in Potsdam. Dort wird er von einem Angestellten der Staatskanzlei mit dem letzten Foto seines Vaters konfrontiert, aufgenommen kurz vor der Hinrichtung im Moskauer Gefängnis Botyrka. Christoph Priesemann: „Mein Vater war ja kahl geschoren, er hatte keine Brille mehr auf, aber es war trotzdem klar zu erkennen, dass es unser Vater war. Er guckte zwar fest und geradeaus in die Kamera, aber man sah eben einen gefangenen Menschen. Und ich habe mich gefragt, was das für eine Situation ist, wenn du kurz vor der Erschießung stehst. Und das bezogen auf den eigenen Vater, das ist schon eine sehr schlimme Sache.“
Rehabilitierungen – die Anerkennung des Unrechts
Bei der Militärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation können seit den 90er Jahren Rehabilitierungen beantragt werden. Etwa Zweidrittel der Familien haben die Bestätigung erhalten, dass das Todesurteil unrecht war – für viele eine Genugtuung. Auch Jürgen Franke ist erleichtert über die Rehabilitierung seines Vaters, denn er vermutet, dass weiterhin viele Bürger aus der ehemaligen DDR denken, das Todesurteil könne nicht aus der Luft gegriffen sein. Tatsächlich existiert die Meinung, dass sich die Opfer etwas zu Schulden kommen lassen haben, weiterhin unterschwellig, bestätigt Anne Drescher von der Geschäftsstelle des Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern. Deshalb sei die Rehabilitierung oftmals eine Möglichkeit, diese Verdächtigungen zu entkräften.
Eduard Lindhammer, der im Jahr 1950 vom sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wird, ist fünf Jahre im sibirischen Lager Workuta interniert. Seine Verurteilung wird im Jahr 1997 als Unrecht anerkannt, weil ein Mitangeklagter die Rehabilitierung beantragt. Lindhammer selber will sich ursprünglich nicht rehabilitieren lassen: “Ich wollte nicht, weil ich rehabilitiert worden wäre von Leuten, die im KGB groß geworden sind. Und von den alten Leuten wollte ich mich nicht rehabilitieren lassen, als ob sie das Recht hätten, darüber zu urteilen, ob man sich strafbar gemacht hat oder nicht."
Ort der Erinnerung
Im Juli 2005 wird ein Gedenkstein auf dem Massengrab 3 des Donskoje-Friedhofs eingeweiht. Dort, wo die Asche der etwa 1000 deutschen Opfer verscharrt ist. Christoph Priesemann und seine Geschwister fahren im Sommer des vergangenen Jahres nach Moskau und haben die Möglichkeit, das erste Mal die Akte ihres Vaters vom sowjetischen Geheimdienst einzusehen. Für ihn und seine Geschwister war die Fahrt ein Abschluss. Nachher sei die Familie etwas ruhiger geworden, da nun die Ungewissheit, die mit dem Verschwinden des Vaters im Raum gestanden habe, aufgeklärt sei.
Die 927 deutschen Opfer sind nun bekannt. Ihre Namen stehen seit dem 1. Juli 2005 auf dem Gedenkstein – ein erster Schritt zu einer Gedenkkultur für die Opfer des Stalinismus.