EU-Gipfel ringt um Reform der Gemeinschaft Viele Baustellen und wenig Hoffnung
Die Staats- und Regierungschefs der EU stehen vor höchst mühsamen Verhandlungen: Auf ihrem Gipfel in Brüssel wollen sie über die Reform der Gemeinschaft beraten. Doch der Widerstand gegen die Vorschläge der deutschen Ratspräsidentschaft ist so vielfältig, dass eine Verlängerung des Gipfels schon jetzt nicht ausgeschlossen wird.
In einer Atmosphäre wachsenden Streits kommen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union heute in Brüssel zu Beratungen über die umstrittene Reform der Gemeinschaft zusammen. Bundeskanzlerin Angela Merkel strebt auf dem letzten Gipfel unter deutscher Ratspräsidentschaft eine Einigung auf Grundzüge eines neuen EU-Vertrags an, der den gescheiterten EU-Verfassungsentwurf ersetzen soll.
Merkel, die die Reform der EU während der deutschen Präsidentschaft vorantreiben wollte, sieht sich aber zahlreichen Änderungswünschen zu Lasten der Gemeinschaft ausgesetzt. Ein Erfolg des Gipfels ist deshalb ungewiss.
Angst vor dem "Superstaat"
Das "Reformvertrag" genannte Papier verzichtet nicht nur auf die Bezeichnung "Verfassung", sondern auch auf die Symbole der EU, wie das Sternenbanner und die Hymne. Deutschland kommt damit Frankreich und den Niederlanden entgegen, wo der Verfassungsentwurf vor zwei Jahren in Volksabstimmungen abgelehnt wurde. Auch Großbritannien und mehrere osteuropäische Länder wandten sich gegen den Begriff "Verfassung" und staatsähnliche Symbole für die EU, die nicht zum Superstaat werden dürfe.
Umstrittene Posten
Aus demselben Grund schlägt die Bundesregierung vor, auf die Umbenennung des bisherigen EU-Außenbeauftragten in Außenminister zu verzichten. Wie das Amt künftig bezeichnet werden soll, lässt sie offen: "Der 'Außenminister der Union' wird XXX genannt", heißt es in dem Verhandlungsvorschlag. Die Rolle des Außenbeauftragten soll aber aufgewertet werden.
Um die Position des Außenministers hatte es zuletzt massiven Streit zwischen Großbritannien und Spanien gegeben. Weil London die Kompetenzen des obersten EU-Diplomaten beschränken will, drohte Madrid, damit, die Einführung eines EU-Präsidenten zu blockieren. Für diesen Posten war der scheidende britische Premier Tony Blair im Gespräch, für den Außenminister der derzeitige EU-Außenbeauftragte, Javier Solana aus Spanien.
Umstrittene Charta
Die Charta der Grundrechte soll anders als im Verfassungsentwurf im neuen Vertrag nicht abgedruckt werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft will sie aber durch einen Querverweis für rechtsverbindlich erklären, wogegen Großbritannien bereits Bedenken angemeldet hat. Als Zugeständnis an London soll der im Verfassungsentwurf enthaltene Hinweis auf den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht durch eine Erklärung zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ersetzt werden - was inhaltlich auf das Gleiche herausläuft.
Polen bleibt hart
An der im Verfassungsentwurf vorgesehenen Stimmgewichtung im Rat, dem Entscheidungsgremium der EU-Staaten, will die Bundesregierung festhalten. In ihrer Beschlussvorlage spricht sie sich für die "Einführung des Systems der Abstimmung mit doppelter Mehrheit" aus. Zur Kritik Polens und Tschechiens an diesem Verfahren heißt es in einer Fußnote: "Zwei Delegationen" seien der Auffassung, eine demokratischere Entscheidungsfindung im Rat würde am besten "mit einer degressiven Proportionalität der Stimmen" erreicht. Damit ist die Forderung nach einer Gewichtung auf der Bais einer Quadratwurzel gemeint. Mit dieser Forderung will vor allem Polen den Einfluss großer Mitgliedstaaten wie Deutschland begrenzen.
Die polnische Haltung hatte in den vergangenen Wochen zu hektischen Vermittlungsbemühungen durch zahlreiche Regierungschefs geführt, die bislang aber ohne Erfolg blieben. Auch dem Vorsitzenden der EU-Kommission, José Manuel Barroso, gelang es am Abend in einem Telefonat nicht, den Premier Jaroslaw Kaczynski von seinem Kurs abzubringen.
Juncker greift London an
Der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker warnte vor einer Verwässerung der Verfassung, der seine Bevölkerung in einem Referendum zugestimmt hatte. Er werde "einer Substanzschwindsucht nicht tatenlos zusehen" und notfalls mit "Nein" stimmen, sagte er der Zeitung "Die Welt". Er bezeichnete die Forderungen der britischen Regierung als größtes Hindernis für eine Einigung. Sollte es nicht zu einer Einigung kommen, würde es viele Jahre dauern, bis man einen neuen Reformanlauf unternehmen werde. Einige Staaten würden dann versuchen, die Einigung ohne die anderen voranzutreiben, fügte er im ZDF hinzu.
Diplomaten befürchten angesichts der schwierigen Ausgangslage, dass der Gipfel möglicherweise über die bislang geplanten zwei Tage hinaus verlängert werden muss. Die Bundesregierung spricht bereits von der Möglichkeit eines "Drei-Hemden-Gipfels" - eine Umschreibung dafür, dass der Gipfel auch drei Tage dauern könnte. Berlin hatte zuletzt die Erwartungen an die Zusammenkunft gedämpft. Es sei schon ein Erfolg, hieß es, wenn die Diskussionen nach dem Gipfel weitergingen.