Polens Bevölkerung debattiert über EU-Reform "Quadratwurzel klingt wunderschön"
Die EU-Außenminister suchen in Luxemburg weiter nach einem Ausweg aus dem Streit mit Polen über die geplante EU-Reform. Zwar sind die meisten Länder für die Reform. Warschau droht indes weiter mit einem Veto. Wie aber reagiert die polnische Bevölkerung auf den Streit?
Von Thomas Rautenberg, ARD-Hörfunkstudio Warschau
Hält die polnische Bevölkerung Politik im Allgemeinen für verzichtbaren Firlefanz – bei Jaroslaw Kaczynskis Drohformel „Quadratwurzel oder Tod“, war die öffentliche Neugier sehr schnell geweckt. "Ich höre jetzt ständig, dass Polen nicht so stur sein soll. Warum sagen wir dann nicht, dass auch die Deutschen stur sind?", fragt ein Mann auf der Straße. Und ein anderer Passant meint: "Das Projekt der Quadratwurzel klingt wunderschön. Es gibt uns Polen mehr Macht in Europa. Aber es ist völlig unrealistisch. Und in der Politik zählt nur, was auch realistisch ist."
"Polen hat keine Chance"
Die Kaczynski-Regierung ist offenbar bereit, beim EU-Gipfel in Brüssel alles auf eine Karte, nämlich die Veto-Karte zu setzen. Um das deutsche Stimmengewicht in der künftigen Europäischen Union zu begrenzen, sind Polens Nationalkonservative entschlossen, die EU erneut in die Krise zu stürzen.
Mit dem Reformvertrag wird ein neues Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedsstaaten, eingeführt - und damit ein Kernpunkt der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung aufgenommen.
Für Beschlüsse soll eine "doppelte Mehrheit" nötig sein: Die Stimmen von mindestens 55 Prozent der Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Ziel ist, einen Ausgleich zwischen bevölkerungsreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien und den kleinen wie Dänemark, Irland oder Malta zu schaffen. Das mittelgroße Polen hatte dem Vertragsentwurf ursprünglich zwar zugestimmt, sah sich danach jedoch benachteiligt. Polen verlangte zwischenzeitlich eine "Quadratwurzel"-Regelung. Dabei wird das Stimmrecht eines Landes ermittelt, indem die Wurzel aus seiner Bevölkerungszahl gezogen wird.
Die 27 EU-Länder einigten sich beim Gipfel nach langen Verhandlungen darauf, das Abstimmungsverfahren der doppelten Mehrheit ab 2014 mit einer Übergangzeit bis 2017 einzuführen.
Die Mehrheit der polnischen Öffentlichkeit ist daher besorgt, weil sie ahnt, dass die Konsequenzen einer Blockade auch um Polen keinen Bogen machen werden. "Ich denke, diese Drohung ist ein Fehler", befürchtet ein Bürger. "Denn unsere Partner in der EU verlieren das Vertrauen zu uns und sie empfinden uns als unberechenbar." Ein anderer Pole glaubt, die Regierung habe keine Chance das Quadratwurzelsystem durchzusetzen. Er fragt: "Wozu das alles? Ich wünschte mir, dass die Sache nicht mit einem Veto endet, denn die Folgen für uns wären doch fatal."
Mehrheit gegen Veto
In einer Umfrage, an der sich über 50.000 Polen beteiligt haben, sprachen sich 36 Prozent der Befragten für ein polnisches Veto aus, sollte die EU Warschau in der Abstimmungsfrage nicht entgegenkommen. 57 Prozent votierten dagegen mit einem klaren Nein.
Derzeit hat Polen fast ebenso viele EU-Stimmrechte wie Deutschland, allerdings nur halb so viele Bürger - rund 40 Millionen Polen stehen gut 80 Millionen Deutsche gegenüber. In Prozent ausgedrückt hat Deutschland 8,4 Prozent der EU-Stimmen, während es Polen auf 7,8 Prozent bringt. Das hatte Warschau im Dezember 2000 beim EU-Gipfel in Nizza durchgesetzt. Mit der neuen Verfassung würde Polen zwar etwas besser gestellt als bisher (8,0 statt 7,8 Prozent der Stimmrechte). Berlin aber würde seinen Einfluss gegenüber Warschau mehr als verdoppeln (mit dann 17,2 Prozent der Stimmrechte). Eine Berechnung nach Quadratwurzel, wie Polen sie fordert, würde Deutschland einen Stimmenanteil von neun, Polen von sechs Prozent bringen. Warschau hätte dann zwar etwas weniger Gewicht als derzeit, aber gegenüber Deutschland deutlich mehr als in der Verfassung geplant.
Aber selbst den Befürwortern einer harten Linie gegenüber der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geht es dabei übrigens weniger um die für Polen günstigere Quadratwurzelberechnung als vielmehr um die Überzeugung, dass ihr Land dem europäischen Druck nicht nachgeben dürfe."Es ist kein Kampf um die Quadratwurzel. Das ist der Kampf um den Platz Polens in der Europäischen Union", sagt ein Mann. Und ein anderer Bürger fordert: "Polen hat nachgegeben und jetzt ist Deutschland an der Reihe. Sie werden das tun, weil sie Angst vor dem Scheitern des Gipfels haben."