Die lange Debatte um EU-Verfassung und -Reform Vom Prestigeobjekt zum Problemfall
Europa sollte fit werden für die Zukunft - das war das Ziel der Verfassungsväter. Ihre Arbeit endete im Debakel: Erst dauerte es fast ein Jahr, bis die Staats- und Regierungschefs unterzeichneten. Dann wurde in einigen Mitgliedsstaaten das Volk befragt - und lehnte ab.
Von Michael Becker, ARD-Hörfunkstudio Brüssel
Es sollte der große Wurf werden, eine Rundum-Erneuerung der Europäischen Union - nicht durch einen normalen Vertrag, sondern durch etwas Besonderes. Einen EU-Verfassungsvertrag eben. Er sollte nicht hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden von EU- oder Regierungsbeamten. Nein, ein Verfassungskonvent sollte das tun, der extra einberufen wurde, mit Vertretern der europäischen Regierungen, der EU-Kommission, mit Abgeordneten aus dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten. Zum Präsidenten des Konvents hatte man den ehemaligen französischen Präsidenten Valerie Giscard d’Estaing gemacht – einen großen Europäer.
Das Volk soll entscheiden...
Nach über einem Jahr, im Sommer 2003, war der Verfassungsvertrag dann fertig. "Wir denken, dass das ein guter Text ist - für Europa und für die Europäer“, meinte Giscard damals zufrieden. Die Begeisterung wurde allerdings nicht von allen geteilt: Schon damals gab es Probleme mit dem Vertrag.
Erst ein Jahr nachdem der Konvent die EU-Verfassung fertiggestellt hatte, bekam sie den Segen der Staats und Regierungschefs - auch das erst nach eingigen Änderungen. Trotzdem, am Ende war die Freude groß, auch beim damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. "Ich glaube, dass man alles in allem sagen kann, dass es gerechtfertigt ist, sich zu freuen", sagte er.
Weil die EU-Verfassung etwas Besonderes sein sollte, sollte sie auch besonders legitimiert werden. Deshalb entschlossen sich einige Länder, sie einer Volksabstimmung zu stellen. Sie hätten das vermutlich nicht getan, wenn sie geahnt hätten, was dabei herauskommen würde.
... das Volk sagt "Nein"
Im Frühjahr 2005 erlebte der französische Präsident Jacques Chirac sein persönliches Waterloo: Die sonst so europatreuen Franzosen lehnten die EU-Verfassung ab. Kurz darauf folgte auch noch das "Nein" der Niederländer. Schlagartig steckte die EU in einer ihrer schwersten Krisen. Die Fehlersuche begann: Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker stellte fest, das ganze Projekt "Verfassung“ zu nennen, sei wohl der größte Fehler gewesen. Das Gefühl, hier komme die großeuropäische Planierraupe und wälze alles nieder, was es an Nationalem gibt, "ist ein Eindruck, den wir durch unvorsichtiges Formulieren geradezu provoziert haben".
Die Staats- und Regierungschefs verordneten sich in ihrer Ratlosigkeit eine "Denkpause", die von vielen allerdings schnell als "Pause vom Denken“ entlarvt wurde. Anderthalb Jahre lang passierte gar nichts. Der Begriff Verfassung wurde zum Unwort, obwohl klar war, dass es nicht damit getan war, dem Kind einfach einen neuen Namen zu geben.
"Ich glaube nicht, dass die Aufgabe damit erledigt ist, den Verfassungsvertrag einfach mit einem neuen Namen auszustatten - das löst das Problem mit Sicherheit nicht", meinte auch Angela Merkel, die schließlich damit beauftragt wurde, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Merkel will so viel wie möglich von der ursprünglichen Verfassung retten, vor allem in dem sie die schöne Verpackung entfernt. Übrig bleiben soll ein Vertrag wie jeder andere EU-Vertrag. Zwar immer noch ein guter Vertrag, aber Verfassung wird ihn keiner mehr nennen.