Mexikos gescheiterter Kampf Was die Drogenkartelle stark macht
Scheitert Mexiko als Staat? Diese Befürchtung erhält durch die mutmaßliche Ermordung von 43 Studenten neue Nahrung. Die Mexiko-Expertin Spiller erklärt im Interview den Erfolg der Drogenkartelle. Ihr Erstarken, so Spiller, ist auch die Folge eines anderen Drogenkriegs.
tagesschau.de: Das Verschwinden und die vermutliche Ermordung von 43 Studenten offenbart eine fatale Nähe von organisierter Kriminalität und Staat. Wie sehr sind beide Seiten miteinander verwoben?
Ingrid Spiller: Es gibt enge Verbindungen zwischen der organisierten Kriminalität und staatlichen Funktionären. Es gibt Bundesstaaten, in denen diese Nähe bis in die höchsten politischen Kreise geht. Auch in der Bundesregierung gibt es Verbindungen zur organisierten Kriminalität. Die Kartelle haben Unmengen von Geld, um Menschen zu korrumpieren. Manche werden durch Drohungen gezwungen, mit den Kartellen zusammenzuarbeiten. Viele nehmen das Geld, um damit ihre politische Karriere zu fördern - etwa, indem sie damit Teile ihres Wahlkampfs finanzieren. Das wird zum Beispiel von dem Gouverneur von Guerrero behauptet, dem Bundesstaat, in dem die 43 Studenten ermordet worden sind. Man kann sich gut vorstellen, dass Teile des Staates dann nicht mehr unabhängig sind.
Ingrid Spiller leitet bei der Heinrich-Böll-Stiftung das Referat Lateinamerika. von 2007 bis 2011 war sie Repräsentantin der Stiftung im Regionalbüro Mexiko.
tagesschau.de: Warum sind Korruption und Rechtlosigkeit so weit verbreitet und auf allen Ebenen des Staates anzutreffen?
Spiller: Mexiko ist ein wichtiges Transitland für Drogen, die in die USA geschmuggelt werden. Ein wesentlicher Grund für die starke Zunahme der Korruption ist die Entmachtung der kolumbianischen Drogenkartelle in den 1990er-Jahren. In dem Maße, wie sie schwächer wurden, wurden die mexikanischen Kartelle immer stärker. Allerdings ist das Phänomen nicht neu. Drogenhandel gab es auch vorher, er wurde aber stärker von der damals allein herrschenden Partei PRI kontrolliert und gelenkt. Als sie im Jahr 2000 die Macht verlor, gab es nicht mehr die "ordnende Hand des Staates". Dadurch sind die Kartelle erstarkt und haben begonnen, untereinander um die Vorherrschaft zu kämpfen.
Nur Einzelpersonen erwecken Hoffnung
tagesschau.de: Gibt es denn überhaupt Institutionen, auf die die Bürger im Kampf gegen die Korruption vertrauen können?
Spiller: Es gibt in allen Institutionen Vertreter, die nicht korrupt sind und dagegen kämpfen. Aber es gibt eben auch sehr oft das Gegenteil. Man kann deshalb nicht auf einzelne Institutionen bauen, sondern muss auf einzelne Personen in diesen Institutionen schauen. Im übrigen gibt es auch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesstaaten. Die Kartelle sind heute in allen Bereichen tätig, in denen die transnational organisierte Kriminalität auftritt - im Menschenhandel, in der Prostitution, im Organhandel, im Waffenhandel und der Geldwäsche. Da, wo die Transportwege verlaufen, sind die Kartelle stark und die Korruption weit verbreitet.
tagesschau.de: Wenn man nur auf einzelne Personen bauen kann, zeigt das, wie schwach die Institutionen sind.
Spiller: Vor allem die Straflosigkeit ist ein immenses Problem. 90 Prozent der Verbrechen werden nicht staatlich verfolgt. Und bei den verbleibenden zehn Prozent gibt es eine hohe Rate von Fehlurteilen, die Unschuldige betreffen. Dieses Gemisch aus großer Korruption, schwachen Institutionen und hoher Straflosigkeit führt zu solchen Verbrechen wie jetzt in Iguala.
Der Kampf gegen die Kartelle ist gescheitert
tagesschau.de: Trifft die Gewalt und die Rechtlosigkeit alle Schichten der Gesellschaften gleichermaßen?
Spiller: Natürlich treffen Gewalt und Rechtlosigkeit die untere Mittelschicht und die Armen sehr viel härter. Aber Entführungen und Schutzgelderpressungen treffen auch die Elite des Landes. Sie hat sich deshalb zum Beispiel aus dem industriellen Zentrum des Landes, der Stadt Monterrey, weitgehend zurückgezogen und wohnt jetzt an anderen Orten.
tagesschau.de: 2006 hat die mexikanische Regierung den Drogenkartellen formell den Kampf angesagt. Ist dieser Kampf gescheitert - musste er womöglich gar scheitern?
Spiller: Die Zivilgesellschaft hat stets die Ansicht vertreten, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen ist. Die Regierung hat die Armee mobilisiert, aber wenig auf dem Gebiet der Prävention getan. Gerade jungen Menschen wurden keine Alternativen angeboten. Für sie gibt es die Bezeichnung "Ninis" - keine Ausbildung und keine Arbeit. Deshalb sind die Kartelle für junge Menschen so attraktiv. Wenn man die Kartelle ernsthaft bekämpfen will, muss man etwas für diese Menschen tun.
Internationale Mitverantwortung
tagesschau.de: In den 1980er- und 1990er-Jahren hat die Europäische Union massiv auf Kolumbien eingewirkt, gegen Korruption und Gewalt vorzugehen. Wäre internationaler Druck auf Mexiko auch hilfreich?
Spiller: Ich glaube, dass internationaler Druck die einzige Möglichkeit ist, Mexiko zu einem stärkeren Kampf gegen die Kartelle und die Korruption zu bewegen. Es gibt auch eine Mitverantwortung der ausländischen Investoren, Druck auf die Regierung ausüben.
tagesschau.de: Gibt es auch eine internationale Mitverantwortung für die Entwicklung Mexikos?
Spiller: Die Drogen, die die Kartelle Mexiko produzieren oder über das Land transportieren, werden auch in Deutschland konsumiert. Die Gelder aus den Drogengeschäften werden auch in den Industriestaaten gewaschen und investiert. Die Gesetze dagegen sind lasch. Deshalb muss auch die internationale Gemeinschaft mehr tun. Die Bereitschaft dafür ist aber mehr verbal als faktisch.
tagesschau.de: Was könnte Deutschland zum Beispiel tun?
Spiller: Mexiko und Deutschland verhandeln gerade über ein Sicherheitsabkommen. Deutschland will helfen, den Kampf gegen die organisierte Kriminalität effektiver zu machen. Die Frage ist: Wie stellt man sicher, dass die Unterstützung aus Deutschland nicht in die falschen Hände gerät? Das betrifft vor allem die Waffenexporte. Heckler & Koch durften nach Mexiko Waffen liefern mit der Auflage, dass sie nicht in bestimmte Bundesstaaten wie etwa Guerrero gelangen. Genau da sind sie aber dann aufgetaucht und und in die Hände der Banden gelangt. Gerüchten zufolge sind sogar im Fall Iguala Waffen von Heckler & Koch gesehen worden.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de