Kreml-Kritiker Nawalny "Der stärkste Gegner des Putin-Regimes"
Warum wurde gerade jetzt ein Anschlag auf den Kreml-Kritiker Nawalny verübt? Ein möglicher Grund: Sein Team veröffentlichte jüngst ein brisantes Investigativ-Video. Der Oppositionelle Kara-Mursa zieht allerdings andere Schlüsse.
40 Minuten ist das Video lang, das vom Team des Kreml-Kritikers und politischen Aktivisten Alexej Nawalny über seine Sibirien-Reise veröffentlicht wird. Es geht um die Regionalwahl, die am 13. September stattfindet. Um die Frage, warum es wichtig ist zu verhindern, dass Abgeordnete der Regierungspartei Geeintes Russland in Nowosibirsk wiedergewählt werden - und wie genau das auch klappen könnte.
Von 50 Abgeordneten, referiert Nawalny in dem Video, seien allein 18 im Baugewerbe tätig. Eine Mafia, die ein gut geschmiertes System aufgebaut habe, in der alles in der Hand weniger bleibe:
Das Bau-Monopol hat einen Teil der Staatsgewalt komplett gekapert. Sie schreiben sich ihre Gesetze selbst. Sie verabschieden sie. Ebenso wie den Etat. Sie kontrollieren sich selbst. Sie bauen also, zahlen sich selbst Gelder aus. Kurzum: Sie steuern die Stadt.
Wie schon in anderen seiner Videos greift sich Nawalny einzelne einflussreiche Politiker heraus und beleuchtet ihre Arbeit, ihren Lebensstil und ihren Besitz - eine Mischung aus Enthüllungsgeschichte, Wahlwerbung und Anti-Putin-Kampagne. Es ist ein Video, mit dem er sich neue Feinde geschaffen hat. Aber auch ein Motiv für einen Anschlag mit einem chemischen Nervenkampfstoff?
Ein Giftanschlag brauche Vorbereitung, sagt Kara-Mursa
Der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa, der selbst zwei Giftanschläge hinter sich hat, schüttelt den Kopf. Er bezweifelt im Interview mit dem ARD-Studio Moskau, dass das Video, die Regionalwahl oder die Ereignisse in Belarus entscheidend waren. Es gehe um etwas Grundsätzliches: "Ich habe keinen Zweifel daran, dass der Grund für den Anschlag auf Nawalny seine politische Oppositionstätigkeit zurückzuführen ist", sagt er. "Nawalny ist der stärkste, effektivste und gefährlichste politische Gegner des Putin-Regimes."
Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa überlebte selbst zwei Giftanschläge. Er zieht daraus seine Schlüsse über den Fall Nawalny.
Die Entscheidung, Nawalny aus dem Verkehr zu ziehen, müsse nicht zwangsläufig in den vergangenen Wochen gefallen sein. Ein solcher Giftanschlag brauche Vorbereitung, sagt Kara-Mursa:
Es ist ein kompliziertes toxisch-chemisches Mittel, ein Nervengift - nichts, was man mal eben so in der Apotheke oder auf dem Markt kaufen kann. Zugang zu so einer Substanz haben nur russische Geheimdienste.
Schmerzhaft, schädlich und schwer nachweisbar
Gift sei schon zu Sowjetzeiten die Lieblingswaffe des Geheimdienstes gewesen, weil es schmerzhaft sei, die Folgen unklar blieben und es sich nur schwer nachweisen lasse, meint der Politiker Kara-Mursa. Es öffne Desinformationskampagnen Tür und Tor: "In meinem Fall haben sie gesagt, ich hätte falsche Tabletten genommen und Alkohol getrunken. Genau dasselbe haben sie über Alexej Nawalny gesagt. Und das sehr schnell."
Eine Methode, die alles andere als neu sei. Die Reaktion des Kreml, sagen auch andere Oppositionspolitiker, passe da sehr gut ins Bild.
Aber irgendwann, glaubt Kara-Mursa, werde die Wahrheit ans Licht kommen: "Natürlich nicht unter Putin. Niemand lässt gegen sich selbst ermitteln." Und bis dahin wisse jeder Kreml-Gegner und Putin-Kritiker um die Risiken seines Handelns.
Nawalnys Team will trotzdem weitermachen: Weitere Videos der Reise sollen noch vor der Regionalwahl in anderthalb Wochen erscheinen.