Interview

Langfassung des Interviews mit Wladimir Putin "Natürlich haben wir im Rahmen des Völkerrechts gehandelt"

Stand: 02.09.2008 11:18 Uhr

ARD-Korrespondent Thomas Roth führte am 29.08.2008 ein Interview mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin über die Eskalation im Kaukasus-Konflikt. Das Gespräch wurde am gleichen Abend in einer circa zehnmütigen Fassung als ARD-Sondersendung im Ersten ausgestrahlt. Wie von vielen Zuschauern gewünscht, dokumentiert tagesschau.de an dieser Stelle das komplette Interview. Thomas Roth hat an anderer Stelle bereits die Entstehungsgeschichte des Interviews erläutert.

Thomas Roth: Herr Ministerpräsident, nach der Eskalation in Georgien sieht das Bild in der internationalen Öffentlichkeit - damit meine ich Politik, aber auch Presse - so aus: Russland gegen den Rest der Welt. Warum haben Sie Ihr Land mit Gewalt in diese Isolation getrieben?

Wladimir Putin: Was meinen Sie: Wer hat den Krieg begonnen?

Roth: Die letzte auslösende Attacke war der georgische Angriff auf Zchinwali, die letzte auslösende Attacke.

Putin: Ich danke Ihnen für diese Antwort. Das stimmt, so war es in der Tat. Wir werden später näher darauf eingehen, ich will nur hervorheben, dass nicht wir eine solche Situation ausgelöst haben. Und jetzt zum Ansehen Russlands.

Ich bin davon überzeugt, dass das Ansehen eines beliebigen Landes, das imstande ist, das Leben und die Würde seiner Bürger zu schützen, eines Landes, das imstande ist, eine unabhängige Außenpolitik zu befolgen, in näherer oder mittelfristiger Zukunft, in der Welt nur wachsen wird.

Und umgekehrt: Das Ansehen der Länder, die es sich zur Regel gemacht haben, außenpolitische Interessen anderer Staaten zu bedienen, indem sie sich über ihre eigenen nationalen Interessen hinwegsetzen, ungeachtet dessen, womit sie dies begründen, dieses Ansehen wird abnehmen. Das ist alles.

Roth: Sie haben die Frage trotzdem noch nicht beantwortet, warum Sie die Isolation Ihres ganzes Landes riskiert haben.

Putin: Ich meine, dass ich diese Frage beantwortet habe, aber wenn sie zusätzlicher Erläuterungen bedarf, gebe ich sie. Ich bin der Meinung, dass ein Land, in diesem Falle Russland, das die Ehre und Würde seiner Bürger verteidigen, deren Leben schützen kann, seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen der Friedenstruppen nachkommt - so ein Land wird nicht in Isolation geraten, was immer auch unsere Partner in Europa oder in den USA innerhalb ihres Blockdenkens reden mögen. Mit Europa und den Vereinigten Staaten geht die Welt noch nicht zu Ende.

Und umgekehrt, ich möchte es noch einmal hervorheben: Wenn irgendwelche Staaten der Meinung sind, dass sie sich über die persönlichen, nationalen Interessen hinwegsetzen können, indem sie die außenpolitischen Interessen anderer Staaten bedienen, wird das Ansehen solcher Staaten in der Welt, womit sie ihre Position auch immer erklären mögen, nach und nach zurückgehen. Wenn die europäischen Staaten die außenpolitischen Interessen der USA bedienen wollen, so werden sie dadurch, meiner Meinung nach, nichts gewinnen.

Und nun zu unseren völkerrechtlichen Verpflichtungen: Laut internationalen Abkommen haben die russischen Friedenstruppen die Verpflichtung übernommen, die friedliche Bevölkerung in Südossetien in Schutz zu nehmen.

Erinnern wir uns jetzt an das Jahr 1995 in Bosnien. Uns ist gut bekannt, dass die europäischen Friedenstruppen, die aus niederländischen Militärangehörigen bestanden, eine der angreifenden Seiten nicht aufgehalten haben und es dieser Seite ermöglicht haben, eine ganze Ortschaft zu vernichten. Hunderte Menschen wurden getötet und in Mitleidenschaft gezogen. Das Problem und die Tragödie in Srebrenica ist Europa sehr gut bekannt. Möchten Sie etwa, dass wir ebenso gehandelt hätten? Dass wir weggegangen wären und es damit den georgischen Militäreinheiten ermöglicht hätten, die in Zchinwali lebenden Menschen zu vernichten?

Roth: Herr Ministerpräsident, Kritiker sagen, Ihr eigentliches Kriegsziel war gar nicht nur, die südossetische (aus ihrer Sicht) Bevölkerung zu schützen, sondern zu versuchen, den georgischen Präsidenten aus dem Amt zu treiben, Georgien weiter zu destabilisieren. Warum? Um den Beitritt Georgiens über kurz oder lang in die NATO zu verhindern. Ist das so?

Putin: Dem ist nicht so, das ist eine Verdrehung der Tatsachen, das ist eine Lüge. Wäre dies unser Ziel - dann hätten wir wahrscheinlich diesen Konflikt begonnen. Aber Sie selbst haben doch gesagt, dass die georgische Seite diesen Konflikt begonnen hat.

Ich erlaube mir nun, auf einige jüngste Geschichtsfakten hinzuweisen. Nach dem nicht legitimen Beschluss über die Anerkennung von Kosovo haben alle erwartet, dass Russland die Unabhängigkeit und die Souveränität von Südossetien und Abchasien anerkennen wird. So war es doch - alle haben eine solche Entscheidung Russlands erwartet. Und das moralische Recht dazu hatten wir.

Aber wir haben dies nicht getan. Wir haben uns mehr als zurückhaltend verhalten. Ich will dies nicht kommentieren, wir haben diese Entscheidung wahrhaftig hinuntergeschluckt. Und was haben wir dafür bekommen? Eine Eskalation des Konflikts, den Überfall auf unsere Friedenskräfte, den Überfall und die Vernichtung der Zivilbevölkerung in Südossetien!

Ihnen sind doch die Tatsachen aus der dortigen Gegend bekannt, die bereits veröffentlicht wurden. Der Außenminister Frankreichs war ja in Nordossetien, wo er sich mit Flüchtlingen getroffen hat. Augenzeugen berichten, dass georgische Militäreinheiten gegen Frauen und Kinder mit Panzern vorgegangen sind. Sie trieben die Menschen in Häuser und verbrannten sie lebendigen Leibes. Und als georgische Soldaten in Tschinwali einmarschiert waren, haben sie in Keller, in deren  sich Frauen, Kinder versteckt haben, im Vorbeigehen Granaten geworfen. Was ist das, wenn nicht Völkermord?

Nun zur georgischen Führung. Leute, die ihr Land in eine Katastrophe gestürzt haben - die Führung Georgiens selbst hat mit ihren Handlungen die territoriale Integrität und Staatlichkeit Georgiens untergraben. Solche Menschen dürfen meiner Meinung nach natürlich an gar keiner Staatsspitze stehen. Egal, ob das kleine oder große Staaten sind. Wären dies anständige Menschen, dann hätten sie selbst sofort zurücktreten müssen.

Roth: Aber Herr Ministerpräsident, das ist nicht Ihre Entscheidung, das ist die georgische Entscheidung.

Putin: Natürlich. Aber wir kennen ja andere Präzedenzfälle. Erinnern wir uns daran, wie die amerikanischen Truppen in den Irak einmarschiert waren und was sie mit Saddam Hussein gemacht haben, weil er einige Dörfer der Schiiten vernichtet hat. Hier dagegen wurden gleich in den ersten Stunden zehn Dörfer auf dem Territorium Südossetiens dem Erdboden gleichgemacht.

Roth: Gibt Ihnen das alles das Recht, nicht nur in der Konfliktzone zu bleiben, sondern darüber hinaus in ein souveränes Land zu marschieren und dieses Land an einer ganzen Reihe von Stellen zu bombardieren? Dass ich hier vor Ihnen sitze, verdanke ich der Tatsache, dass eine Bombe aus Ihrem Flugzeug hundert Meter rechts von mir in Gori in einem Wohnviertel explodiert ist, und nicht da, wo ich stand. Ist das nicht klarer Völkerrechtsbruch, dass Sie ein Land de facto besetzen? Woher nehmen Sie das Recht?

Putin: Natürlich haben wir im Rahmen des Völkerrechts gehandelt. Den Überfall auf die Posten unserer Friedenskräfte, den Mord an unseren Friedensstiftern und an unseren Bürgern haben wir zweifelsohne als einen Überfall auf Russland verstanden.

In den ersten Stunden der Kampfhandlungen haben die georgischen Streitkräfte mit ihren Schlägen gleich mehrere Dutzend Soldaten der russischen Friedenskräfte getötet. Sie haben unsere südliche Stellung (dort gab es im Süden und im Norden Stellungen der Friedenstruppen) mit Panzern umzingelt und sie unter direkten Beschuss genommen.

Als unsere Friedenstruppen versucht haben, schweres Kriegsgerät zu mobilisieren, haben die georgischen Truppen Grad-Raketenwerfer-Feuer eingesetzt. Zehn russische Soldaten, die noch in den Garagen waren, wurden auf der Stelle getötet. Sie sind lebendigen Leibes verbrannt. Danach hat die Luftwaffe Georgiens Schläge gegen verschiedene Gegenden Südossetiens - nicht in Zchinwali, sondern in der Mitte von Südossetien - durchgeführt.

Und wir wurden gezwungen, georgische Feuerleitstellungen unter Feuer zu nehmen, die sich außerhalb der Kampf- und der Sicherheitszone befanden. Aber dies waren Stellungen, aus denen die georgischen Streitkräfte geführt, und von wo aus die russischen Truppen und die Friedenstruppen angegriffen wurden.

Roth: Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass auch Wohnviertel bombardiert worden sind. Was ich selbst erlebt habe, sonst würde ich das nicht sagen. Kann es sein, dass Sie vielleicht nicht alle Informationen haben?

Putin: Vielleicht habe ich nicht wirklich alle Informationen, und während der Kämpfe kann es auch zu Fehlern kommen. Vor Kurzem haben die amerikanischen Luftstreitkräfte in Afghanistan angeblich den Taliban einen Schlag versetzt, in Wirklichkeit aber haben sie mit einem Schlag an die hundert friedliche Menschen vernichtet.

Das ist die erste Möglichkeit, aber die zweite Möglichkeit ist wahrscheinlicher: Die Feuerleitstellen, die Luftwaffenlenkstellungen und die Radarstationen hat die georgische Seite manchmal gerade in Wohngebieten untergebracht, um zu verhindern, dass wir gegen diese unsere Luftwaffe einsetzen. Dadurch hat sie die Zivilbevölkerung und auch Sie als Geiseln benutzt.

Roth: Gut, das ist eine Vermutung. Herr Ministerpräsident, der französische Außenminister Kouchner hat viele Sorgen geäußert in den letzten Tagen als Minister der Ratspräsidentschaft. Er hat auch die Sorge geäußert, dass der nächste Konfliktherd in der Ukraine beginnt, nämlich um die Krim, und zwar um die Stadt Sewastopol. Ist die Krim das nächste Ziel? Der Sitz der Schwarzmeerflotte?

Putin: Sie sagten: das nächste Ziel. Aber wir hatten auch hier kein nächstes Ziel. Es ist nach meiner Meinung deshalb nicht korrekt, von irgendeinem nächsten Ziel zu sprechen. Das ist Thema Eins. Wenn Sie mir gestatten zu antworten, dann werden Sie zufrieden sein.

Die Krim ist kein umstrittenes Territorium. Dort hat es keinen ethnischen Konflikt gegeben, im Unterschied zum Konflikt zwischen Südossetien und Georgien. Russland hat längst die jetzigen Grenzen der heutigen Ukraine anerkannt. Im Großen und Ganzen haben wir eigentlich die Verhandlungen um die Grenze abgeschlossen. Es geht lediglich um die Demarkation, also um rein technische Dinge.

Die Frage über derartige Ziele Russlands birgt meines Erachtens einen provokativen Sinn in sich. Innerhalb der Gesellschaft auf der Krim verlaufen zu komplizierte Prozesse: Das Problem der Krimtataren, der ukrainischen, russischen und überhaupt der slawischen Bevölkerung - dies ist jedoch ein innerpolitisches Problem der Ukraine selbst. Mit der Ukraine haben wir einen Vertrag über den Aufenthalt unserer Flotte in Sewastopol bis 2017. Wir werden uns von diesem Vertrag leiten lassen.

Roth: Herr Ministerpräsident, ein weiterer Außenminister hat Sorgen geäußert, in diesem Fall der britische Außenminister Milliband. Er hat vor einem neuen - ich benutze dieses Wort als Zitat - Kalten Krieg zwischen Russland und dem Westen gewarnt. Er hat vor einem beginnenden Wettrüsten gewarnt. Wo stehen wir? Wie würden Sie das bezeichnen: Ist das eine Eiszeit, ist es schon ein Kalter Krieg und hat das Wettrüsten schon begonnen, oder schließen Sie alles aus?

Putin: Es gibt den Ausspruch: Haltet den Dieb! Derjenige, der am lautesten schreit, der ist der Dieb.

Roth: Der ist der Räuber, der britische Außenminister.

Putin: Das haben Sie gesagt. Exzellent! Es ist angenehm, sich mit Ihnen zu unterhalten. Aber das haben Sie gesagt. Meint man es aber ernst, so ist Russland keinesfalls darauf aus, dass sich die Situation zuspitzt. Wir wollen keine Spannungen, mit wem auch immer. Wir streben freundliche, gutnachbarliche Beziehungen an, Partnerschaftsbeziehungen mit allen Staaten.

Wenn Sie gestatten, ich denke darüber Folgendes: Es hat die Sowjetunion und den Warschauer Vertrag gegeben. In Deutschland gab es sowjetische Truppen. Ehrlich gesagt waren es Besatzungstruppen, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geblieben sind, als Truppen der Alliierten. Diese Besatzungstruppen wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion abgezogen, der Warschauer Vertrag löste sich auf. Es gibt keine Gefahr seitens der Sowjetunion. Aber die NATO, die US-Truppen, sind in Europa geblieben. Warum?

Um Ordnung im eigenen Haus, im eigenen Lager, mit den eigenen Verbündeten zu schaffen, um sie im Rahmen der Blockdisziplin zu halten – braucht man eine äußere Gefahr. Der Iran passt nicht ganz für eine solche Rolle. Also will man unbedingt Russland als Feindbild ins Leben zurückrufen. Aber in Europa hat man davor keine Angst mehr.

Roth: Am Montag tagt die EU in Brüssel. Sie wird über Russland reden. Es wird wohl auch über Sanktionen gegen Russland geredet werden, möglicherweise beschlossen. Macht Ihnen das irgend eine Art von Sorge oder ist Ihnen das egal, weil Sie sagen: Die Europäer finden sowieso nicht zu einer Stimme?

Putin: Wenn ich sagen würde, dass uns dies völlig wurscht, völlig egal wäre - dann würde ich lügen. Natürlich ist es uns nicht gleichgültig. Wir werden natürlich aufmerksam verfolgen, was sich dort abspielt. Wir hoffen nur, dass der gesunde Menschenverstand die Oberhand gewinnt. Wir hoffen, dass es nicht eine politisierte, sondern eine objektive Einschätzung der Ereignisse in Südossetien und in Abchasien geben wird. Und wir hoffen, dass die Aktivitäten der russischen Friedenskräfte unterstützt werden und dass die Handlungen der georgischen Seite, die diese verbrecherische Aktion provoziert hat, verurteilt werden.

Roth: Herr Ministerpräsident, müssen Sie sich nicht in Wirklichkeit entscheiden? Sie wollen einerseits, wenn ich Sie richtig verstehe, auf eine intensive Zusammenarbeit mit Europa nicht verzichten. Sie können es meines Erachtens auch wirtschaftlich gar nicht. Andererseits wollen Sie trotzdem nach eigenen russischen Spielregeln spielen? Also auf der einen Seite wollen Sie ein Europa der gemeinsamen Werte, die Sie auch teilen müssen, andererseits spielen Sie nach russischen Spielregeln? Beides zusammen geht aber nicht. Erklären Sie es mir.

Putin: Wir sind, wie Sie wissen, nicht darauf aus, nach unseren eigenen, besonderen Regeln zu spielen. Wir wollen, dass alle nach ein- und denselben Regeln handeln, die als Völkerrecht bezeichnet werden.

Wir wollen aber nicht, dass irgend einer mit diesen Begriffen manipuliert. In der einen Weltregion spielen wir so - in einer anderen wiederum  nach anderen Regeln. Aber dies muss unseren Interessen entsprechen. Wir wollen, dass es einheitliche Regeln gibt, die den Interessen aller Teilnehmer der Weltgemeinschaft gerecht werden.

Roth: Das bedeutet aber, Sie unterstellen, dass die europäische Gemeinschaft in unterschiedlichen Gegenden der Welt nach unterschiedlichen Spielregeln spielt, die nicht dem Völkerrecht entsprechen. Habe ich Sie richtig verstanden?

Putin: Natürlich, wie denn sonst? Wie hat man Kosovo anerkannt? Die territoriale staatliche Integrität hat man ganz vergessen, die Resolution 1244 ebenfalls, die wir gemeinsam verabschiedet und unterstützt haben. Dort durfte man so verfahren, aber in Abchasien und Südossetien nicht? Warum nicht?

Roth:  Russland ist der einzige Wächter des Völkerrechts, alle anderen sind manipuliert, verstehen das nicht, haben andere Interessen, und denen ist das egal. Habe ich Sie richtig verstanden?

Putin:  Sie haben mich falsch verstanden. Wurde die Unabhängigkeit des Kosovo von ihnen anerkannt, ja oder nein?

Roth: Aber nicht alle Länder Europas. Nicht alle.

Putin: Die meisten. Wenn sie sie aber dort anerkannt haben, dann erkennen sie doch auch die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien an. Kein Unterschied. In dieser Position gibt es keinen Unterschied. Dies ist ein ausgedachter Unterschied.

Dort hat es einen ethnischen Konflikt gegeben, und auch hier gibt es ihn. Dort hat es praktisch von beiden Seiten Verbrechen gegeben, und auch hier wird man sie wohl finden können. Auf beiden Seiten, wenn man gut sucht, dann kann man sie finden. Wahrscheinlich. Dort wurde beschlossen, dass diese beiden Völker miteinander in einem Staat nicht leben können. Auch hier wollen sie nicht in einem Staat zusammenleben. Da gibt es keinen Unterschied! Dies sehen doch alle wunderbar ein, jetzt wird nur viel drum herum geredet, um unrechtmäßige Entscheidungen zu vertuschen. Dies ist das Recht des Starken, Faustrecht. Und damit kann sich Russland nicht abfinden.

Herr Roth, Sie leben schon lange in Russland, Sie sprechen exzellent Russisch, fast akzentfrei. Kein Wunder, dass Sie mich verstanden haben. Es ist mir angenehm, aber ich möchte, dass auch unsere europäischen Kollegen mich verstehen, die sich am 1. September versammeln und diesen Konflikt behandeln werden.

Roth: Kann ich Ihnen erklären, warum sie Sie nicht verstehen? Darf ich das? Weil der Unterschied, so wird argumentiert, darin besteht, dass im Kosovo zum Beispiel die UNO mitbeschäftigt war, internationale Gremien mitbeschäftigt waren, es gab verschiedene Resolutionen. Sie haben einige davon, Russland auch, mitgetragen. Dieses war in Südossetien, Abchasien natürlich nicht der Fall, oder nur zum Teil. Und darin besteht, jedenfalls aus der Sicht der europäischen Gemeinschaft, der große Unterschied. Dass Gewalt auf beiden Seiten angewendet worden ist, ist richtig.

Putin: Die Resolution 1244 wurde doch verabschiedet, in der die territoriale Integrität Serbiens festgeschrieben steht und hervorgehoben wurde. Diese Resolution wurde in den Mülleimer geworfen, man hat sie vergessen, man versuchte, sie anders auszulegen, was aber nicht gelang. Warum hat man sie ganz vergessen? Weil es im Weißen Haus befohlen wurde und alle haben den Befehl ausgeführt. Wenn die europäischen Länder die Politik der USA auch in Zukunft so befolgen werden, dann werden wir über die europäischen Angelegenheiten mit Washington reden müssen.

Roth: Ich würde gerne auch noch zu dem anderen Thema, wenn ich darf, kommen, und zwar zu den russisch-deutschen Beziehungen. Glauben Sie, dass Deutschland bei den sichtbaren Differenzen, die zwischen Ihnen und der Kanzlerin und sicherlich auch in Brüssel angesprochen werden, eine vermittelnde Rolle spielen kann? Wo sehen Sie die Aufgabe von Deutschland in dieser Krise?

Putin: Mit Deutschland haben wir sehr gute und vertrauliche Beziehungen in der Politik und in der Wirtschaft. Als wir mit Herrn Sarkozy während seines Moskaubesuchs gesprochen haben, sagten wir ihm direkt, dass wir nicht die Absicht haben, irgendwelche georgischen Gebiete zu besetzen. Und wir werden natürlich die Stellungen verlassen, wo wir uns jetzt befinden, und uns in die Sicherheitszone zurückziehen, die in früheren internationalen Verträgen vereinbart waren.

Aber auch dort wollen wir nicht ewig bleiben, weil wir meinen, dass dies georgisches Territorium ist. Unser Ziel besteht lediglich darin, die Sicherheit in dieser Region zu gewährleisten, und wir wollen verhindern, dass heimlich wieder Waffen und schwere Kriegstechnik konzentriert wird. Wir wollen verhindern, dass dort wieder Voraussetzungen für einen neuen bewaffneten Konflikt geschaffen werden.

Und dabei ist die Teilnahme internationaler Beobachter der OSZE, der EU, darunter auch aus Deutschland, nur zu begrüßen. Wir müssen nur die gemeinsamen Arbeitsprinzipien vereinbaren.

Roth: Das heißt, Sie ziehen auf jeden Fall Ihre Truppen dann zurück?

Putin: Hauptsache ist, dass die Sicherheit in dieser Zone garantiert wird. Im nächsten Schritt werden wir Südossetien helfen, seine Grenzen zu sichern. Danach gibt es für uns keinen Grund mehr, uns in dieser Sicherheitszone weiter aufzuhalten. In diesem Zusammenhang kann ich sagen, dass wir im Rahmen dieser Arbeit die Zusammenarbeit mit den europäischen Strukturen und mit der OSZE begrüßen.

Roth: Wo sehen Sie aus der Krise, die es ohne Frage gibt, auch in den Beziehungen zu Russland von Seiten Europas und den USA, wo sehen Sie ganz persönlich und ganz praktisch den Ausweg? Was können Sie dazu beitragen, dass diese Krise nicht weiter eskaliert, sondern deeskaliert und aufgehoben wird?

Putin: Erstens sagte ich das gestern Ihren CNN-Kollegen: Die Krise wurde, wie mir scheint, sehr erheblich unter anderem mit Hilfe unserer amerikanischen Freunde während des Wahlkampfes provoziert: Das ist die Nutzung der Machtressourcen der Administration in der kläglichsten Art, um die Vorzüge eines der Präsidentschaftskandidaten zu sichern - in diesem Fall zugunsten der regierenden Partei.

Roth: Das glauben Sie wirklich?

Putin: Ja, ich glaube es.

Roth: Haben Sie Fakten?

Putin: Analyse.

Roth: Das ist kein Fakt.

Putin: Das ist kein Fakt. Uns ist bekannt, dass es dort viele amerikanische Berater gegeben hat. Es ist sehr schlecht, eine der Seiten beim ethnischen Konflikt aufzurüsten und dann diese dazu zu drängen, ethnische Probleme auf dem militärischen Wege zu lösen. Dies scheint zwar einfacher, als jahrelang zu verhandeln und nach Kompromissen zu suchen. Aber das ist zugleich ein sehr gefährlicher Weg, was sich ja dann aus der Entwicklung auch gezeigt hat.

Aber die Berater und Instrukteure, die Ausbilder, das Personal, das die Truppen ausbildet und an der gelieferten Kriegstechnik trainiert hat, das muss sich auf dem Übungsgelände und in den Trainingszentren befinden. Und wo waren sie in Wirklichkeit? In der Zone der Kampfhandlungen. Und allein dies lässt vermuten, dass die Führung der USA über die vorbereitete Aktion im Bilde war. Mehr noch - sie hat daran höchst wahrscheinlich teilgenommen. Denn ohne das Kommando der höchsten Führung hätten amerikanische Bürger kein Recht, sich in der Konfliktzone aufzuhalten. In der Sicherheitszone durften sich nur Ortsbewohner, OSZE-Beobachter und die Friedenskräfte aufhalten. Dort haben wir aber Spuren amerikanischer Bürger entdeckt, die weder zur ersten, noch zur zweiten, noch zur dritten Kategorie gehört haben.

Und da ergibt sich die Frage: Warum hat die oberste Führung der Vereinigten Staaten die Präsenz ihrer Bürger in der Sicherheitszone gestattet, die sich dort gar nicht aufhalten durften? Und wenn ihnen dies gestattet wurde, dann kommt bei mir der Verdacht auf, dass dies extra gemacht wurde, um einen kleinen siegreichen Krieg zu organisieren. Und als dieser misslungen war, dann wurde aus Russland ein Feindbild gemacht, um auf dieser Grundlage die Wähler um einen der Präsidentenanwärter zu scharen. Natürlich um den Kandidaten von der regierenden Partei. Weil nur die regierende Partei über solche Ressourcen verfügen kann. Dies sind meine Überlegungen und Annahmen. Es ist Ihre Sache, ob Sie damit einverstanden sind oder nicht, aber sie sind existenzberechtigt, weil wir auf die Spuren der US-Bürger in der Zone der Kampfhandlungen gestoßen sind.

Roth: Herr Ministerpräsident, gestatten Sie meine letzte Frage, die mich schon lange interessiert: Sind Sie nicht selbst in der Falle Ihres eigenen autoritären Systems? Sie empfangen Information über ihre Geheimdienste, Sie empfangen Information über die Militärs, Sie empfangen Information aus Ihrer Hierarchie, in der viele Angst haben, etwas Falsches zu sagen, weil die Führung etwas anderes entscheidet. Das heißt, Sie bekommen unter Umständen auch von den Medien nicht die Wahrheit geliefert, die Sie brauchen, weil auch dort viel Angst ist, etwas Falsches zu sagen, weil möglicherweise die Führung etwas anders entscheidet, die Menschen ihre Karrieren gefährden. Und eben dieses System verstellt Ihnen dann selbst den Blick auf große internationale Entwicklungen, zum Beispiel auch auf Europa hinzusehen. Wie sehen Sie das?

Putin: Sehr geehrter Herr Roth, Sie sprachen über unseren politischen Aufbau wie über ein autoritäres System. Während unserer heutigen Diskussion haben Sie mehrfach die gemeinsamen Werte erwähnt. Wo ist das Set dieser Werte? Es gibt grundlegende Prinzipien, zum Beispiel das Recht des Menschen auf Leben. In den USA gibt es zum Beispiel die Todesstrafe, bei uns in Russland gibt es sie nicht, auch bei Ihnen in Europa gibt es sie nicht.

Bedeutet dies etwa, dass Sie, sagen wir mal, aus dem NATO-Block austreten möchten? Weil es zwischen den Europäern und den Amerikanern keine völlige Übereinstimmung der Werte gibt? Nun zum Konflikt, den wir jetzt gemeinsam erörtern. Ist Ihnen denn nicht bekannt, was sich in Georgien in den letzten Jahren abgespielt hat? Der geheimnisvolle Tod des Ministerpräsidenten Schwanija, die Abrechnung mit der Opposition, das praktisch gewaltsame Auseinandertreiben von Protestaktionen der Oppositionskräfte, Nationalwahlen unter dem Notstandsgesetz, dann diese verbrecherische Aktion in Südossetien mit vielen menschlichen Opfern. Und dies ist natürlich trotzdem ein demokratisches Land, mit dem ein Dialog geführt werden muss und das in die NATO und vielleicht auch in die EU aufgenommen werden muss.

Und wenn ein anderes Land seine Interessen schützt, das Recht seiner Bürger auf Leben verteidigt, auf die ein Überfall verübt wurde? Gleich zu Beginn wurden auf unserer Seite 80 Mann umgebracht, an die 2000 friedliche Bürger getötet - und wir sollen das Leben unserer Bürger dort nicht in Schutz nehmen dürfen?

Und wenn wir uns jetzt damit beschäftigen, unser Leben zu verteidigen, will man uns dafür dann die Wurst wegnehmen? Was für eine Wahl haben wir? Zwischen Wurst und Leben. Wir wählen das Leben, Herr Roth.

Und nun zu einem anderen Wert, zum Thema Pressefreiheit. Sehen Sie sich nur an, wie diese Ereignisse in der Presse der USA behandelt werden, die man als Leuchte der Demokratie bezeichnet.

Genauso in der europäischen Presse. Ich war in Peking, als es zu diesen Ereignissen in Georgien kam. Der Massenbeschuss von Tschinwali war im Gange, Bodenoperationen der georgischen Truppen waren gestartet, es gab bereits zahlreiche Opfer und niemand sagte auch nur ein Wort dazu, auch Ihr Fernsehsender hat geschwiegen, alle US-Sender ebenfalls, als wäre nichts geschehen, als wäre alles ruhig.

Sobald aber der Aggressor eins in die Fresse gekriegt hat, sobald ihm die Zähne ausgeschlagen wurden, sobald er all seine amerikanischen Waffen zurückließ und abgehauen war, dann erinnerten alle sich plötzlich an das Völkerrecht und an das böse Russland. Alle waren plötzlich wie ein einziger Chor aufgetreten. Warum wohl eine solch unterschiedliches Verhalten?

Und nun zur Wurst, genauer gesagt, zum Thema Wirtschaft. Wir streben normale Wirtschaftsbeziehungen mit all unseren Partnern an. Wir sind ein sehr zuverlässiger Partner, wir haben niemals jemanden im Stich gelassen.

Als wir zum Beispiel zu Beginn der Sechziger Jahre die Pipeline in die BRD verlegten, haben unsere Partner aus Übersee den Deutschen geraten, diesem Projekt nicht zuzustimmen, das sollten Sie doch wissen. Aber die Führung Deutschlands hat damals die richtige Entscheidung getroffen, und dieses System wurde zusammen mit der Sowjetunion gebaut. Heute ist dies eine zuverlässige Quelle für die Versorgung der deutschen Wirtschaft mit Kohlenwasserstoffen.

40 Milliarden Kubikmeter kriegt Deutschland jährlich, und wir garantieren, dass es auch im laufenden Jahr, wie es in dem vergangenen Jahr der Fall war, die gleiche Menge kriegen wird. Und nun ein globaler Blick auf dieses Thema. Wie sieht die Struktur unseres Exports in die europäischen Länder und auch nach Nord-Amerika aus? Zu gut 80 Prozent sind das Rohstoffe: Erdöl, Gas, Erdölchemie, Holz, diverse Metalle, chemische Düngemittel.

Die Weltwirtschaft und die europäische Wirtschaft hat großen Bedarf an diesen Waren. Dies sind auf den Weltmärkten gefragte Waren. Unsere Exportmöglichkeiten auf dem Gebiet der Hightech sind noch zu gering. Trotz der Vereinbarung zwischen der EU und Russland auf dem Gebiet des Nuklearbrennstoffs werden wir unrechtmäßig nicht auf dem europäischen Markt zugelassen. Übrigens, wegen der Haltung unserer französischen Freunde. Sie wissen das, aber wir haben lange mit ihnen darüber diskutiert.

Wenn jemand gegen diese Wirtschaftsbeziehungen mit Russland ist, dann sind wir machtlos, aber wir wollen dies nicht. Wir hoffen, dass unsere Partner ihren Verpflichtungen ebenso wie wir nachkommen werden.

Das Gesagte bezieht sich auf unseren Export. Was aber Ihren Export betrifft, für uns also den Import, so ist  Russland ein sehr zuverlässiger und großer Markt. Die genauen Zahlen fehlen mir, aber die Lieferungen der deutschen Maschinenbauindustrie nach Russland wachsen von Jahr zu Jahr. Sie sind ganz umfangreich. Möchte jemand nicht mehr seine Waren an uns liefern, dann werden wir sie woanders einkaufen. Ich verstehe nur nicht, wer das braucht.

Wir plädieren für eine objektive Analyse der entstandenen Situation, und wir hoffen, dass Vernunft und Gerechtigkeit triumphieren werden. Wir sind ein Opfer der Aggression und wir hoffen auf die Unterstützung seitens unserer europäischen Partner.

Roth: Herr Ministerpräsident, haben Sie sehr herzlichen Dank für dieses Interview. Dankeschön.