Corona-Krise in Russland "Es ist wie in einem Krieg"
Es sind erschütternde Zeilen: Schauspieler aus Sankt Petersburg lesen Briefe russischer Ärzte und Pfleger vor. Diese kämpfen seit Wochen gegen die Corona-Pandemie und beklagen viele Opfer.
"Leute! Ich flehe Euch an, dies ist ein Schrei aus tiefster Seele! Bleibt bitte Zuhause! Die zweite Welle werden wir physisch nicht überstehen. Es wird niemanden geben, der noch behandeln kann, wenn wir alle am Ende sind. Gott bewahre!"
Karina Rasumowskaja hat Tränen in den Augen, als sie aus einem offenen Brief von Notärzten vorliest. Was die Petersburger SchauspielerInnen über Stunden vortragen, sind erschütternde Hilferufe von Rettungsdienstlern - aus russischen Klinken. Aus den "Roten Zonen", den Corona-Krisenzentren. Ärzte, Schwestern, Pfleger sind seit Wochen im Dauereinsatz.
"Es ist wie in einem Krieg. Ich sage es nochmal: wie in einem Krieg. Gestern gab es keine Schutzmasken mehr. Die Tochter einer Kollegin hat mir eine genäht. Mir und allen anderen in der Schicht," berichtet eine Ärztin, der die Schauspielerin Marina Adaschewskaja ihre Stimme leiht.
Inoffizielle Listen von Opfern
Viele, die mit Corona-Patienten arbeiten, haben sich inzwischen selbst infiziert. Es gibt eine von Medizinern geführte Liste des Gedenkens, auf der die Namen jener stehen, die an den Folgen der Virus-Erkrankung gestorben sind. Mehr als 300 sind es bereits.
Offiziell sieht die Statistik anders aus. Das Gesundheitsministerium sprach in dieser Woche von rund 100 Toten. Immer wieder warnen die Behörden vor falschen oder überzogenen Behauptungen, die vor allem in den sozialen Medien verbreitet würden.
Die verzweifelten Berichte des medizinisches Personals - nichts als Fakes? So wie die Bilder von einer langen Schlange von Rettungswagen, die vor einer Corona-Klinik darauf warten, ihre Patienten abliefern zu können?
Nein, heißt es selbst im Staatsfernsehen: "Es sind echte Bilder. Unsere Reporter haben mit den Ärzten gesprochen, sie haben es bestätigt."
Krankenwagen warten mit ihren Patienten vor einer Klinik in St. Petersburg (28.4.2020)
Not trotz finanzieller Zuwendungen
Aus Sicht der stellvertretenden Bürgermeisterin von Moskau, Anastasija Rakowa, gab es bereits Mitte April, nichts zu beschönigen. Das gesamte Moskauer Gesundheitssystem sei in Alarmbereitschaft. Es arbeite am Anschlag.
Der russische Präsident Wladimir Putin ließ große Summen freimachen, um die Bettenkapazitäten zu erhöhen und vor allem die Kliniken in den Regionen besser auszustatten. Inzwischen wurden Sonderzahlungen für medizinisches Personal angeordnet. Um es zu entlasten, sollen zudem Medizinstudenten aushelfen. Und zwar nicht, wie Alexandra aus Moskau zunächst dachte, im Rahmen eines freiwilligen Praktikums.
Zwangseinsätze für Studenten
"Der Vizerektor hat uns in einer Videokonferenz kurze Zeit später erklärt, dass das Praktikum obligatorisch sei. Es gehöre nun zum Lehrplan. Wenn wir es nicht machen, gibt es Minuspunkte."
Selbst in den Hochrisiko-Zonen sollen die Studenten arbeiten. Zum Glück entspannt sich die Lage in Moskau gerade. Es gibt weniger Neuinfektionen. Auf die Ärzte und Pfleger wartet aber bereits die nächste Aufgabe.
Sie sollen, so haben es Präsident Putin und Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin entschieden, in den Regionen helfen, in denen sich das Virus weiter ausbreitet. Ihre Erfahrung, ihr Praxiswissen sei für solche Regionen von großem Wert. Das müsse man einfach teilen.
Die ersten Moskauer Ärzte sind bereits in der russischen Teilrepublik Dagestan eingetroffen. Die Lage dort gilt offiziellen Angaben zufolge als äußerst schwierig.