Historikerin über Putin "Anspruch auf totale Herrschaft"
Die Historikerin Anne Applebaum sieht Parallelen zwischen Putins Russland und den Diktaturen Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion. Frieden in der Ukraine könne es nur nach einer militärischen Niederlage Russlands geben, sagte sie im Kontraste-Interview.
Kontraste: Wie würden Sie das derzeitige politische System in Russland beschreiben?
Anne Applebaum: Russland ist ein autokratisches System, das viele Ähnlichkeiten zu faschistischen und kommunistischen Diktaturen der Vergangenheit in sich trägt. Es ist ein System, das auf einen einzelnen Führer zugeschnitten ist, der keine Fehler hat und der nicht ausgetauscht werden kann. Es gibt keine geregelte Nachfolge. Es gibt keinen legitimen Weg, ihn zu kritisieren. Und es gibt keine Möglichkeit Widerspruch zu zeigen. Jede Form der Opposition ist heute in Russland verboten, genau so wie alle Arten von Nichtregierungsorganisationen.
Anne Applebaum ist eine in den USA geborene Historikerin und Autorin. Sie studierte an der Yale University und der London School of Economics. Sie lehrte an Hochschulen in den USA und Europa und schreibt Kolumnen für Publikationen vor allem in den USA und Großbritannien.
2003 wurde ihr Buch "Gulag" über das sowjetische Lagersystem veröffentlicht. Das 2017 publizierte Buch "Roter Hunger" mit der These eines geplanten Genozids an den Ukrainern zu Sowjetzeiten führte zu einer Kontroverse auch unter Wissenschaftlern.
Applebaum hat neben der US-amerikanischen auch die polnische Staatsangehörigkeit.
Kontraste: Kann man sagen, dass Russland ein faschistisches Land ist?
Applebaum: Ich war vorsichtig mit dem Begriff faschistisch, weil dann jeder gleich an die Ermordung von Juden und den Holocaust denkt. Aber in diesem Fall würde ich sagen: Ja, man kann das Wort faschistisch benutzen. Die Art und Weise, in der Russen jetzt über die Ukrainer sprechen, ist genozidal. Sie reden davon, dass Ukrainer Menschen sind, die es nicht verdienen zu existieren, die von der Landkarte gefegt werden müssen, dass ihre "Rasse", sogar ihr Name ausgelöscht werden muss. Die Ukraine sei kein richtiges Land. Russische Soldaten in der Ukraine erklären den Ukrainern, dass sie sie vom Schmutz befreien müssen, dass sie von der Erde entfernt werden müssen. Diese Art der Sprache kennen wir aus der Nazivergangenheit.
Opposition ist Landesverrat
Kontraste: Faschismus bedeutet auch Massenmobilisierung. Sehen Sie die aktuell in Russland?
Applebaum: Ja, wir sehen einen Versuch, die Gesellschaft für einen Krieg zu mobilisieren, der nicht einmal als Krieg bezeichnet wird. Stattdessen wird er als "Spezialoperation" bezeichnet. Aber wer es wagt, diese zu kritisieren, der kommt ins Gefängnis. Versuche, die "Spezialoperation“ zu unterstützen oder sich ihr anzuschließen, werden belohnt.
Es gibt keinen legitimen Weg, sich dem entgegenzustellen oder sich da herauszuhalten. Es ist eine Mobilisierung der Gesellschaft um diese Idee herum und um die Idee, dass Putin unfehlbar ist. Um die Idee, dass der Staat nicht kritisiert werden kann und dass jede Form der Opposition Landesverrat ist. All das sind Wege, die Gesellschaft zu mobilisieren.
Kontraste: Gibt es eine echte Massenmobilisierung in Russland, oder ist das nur Show für das Staatsfernsehen?
Applebaum: Es stimmt, dass Putin bis jetzt keine Massenrekrutierung will, oder beispielsweise mehrere Millionen Menschen in seinen Kriegseinsatz involvieren will. Zu einem gewissen Grad ist die Mobilisierung eine Show, fürs Fernsehen, für die Russen und die Welt außerhalb Russlands. Aber ich denke, die Kontrolle über die Informationssphäre und die Kontrolle über die Bildung, über Kultur und alle anderen Formen der gesellschaftlichen Kommunikation ist real.
"Z wird genutzt wie das Hakenkreuz in Nazideutschland"
Kontraste: Was sagt uns der Gebrauch von Symbolen wie dem Z über das Regime in Russland?
Applebaum: Das Z ist ein seltsames Symbol, denn es hat keine Tradition in Russland. Zu Beginn des Krieges habe ich mich sogar gefragt, ob es dazu dient, den Staat gedanklich vom Krieg zu trennen, für den Fall, dass der Krieg verloren geht. Allerdings sehen wir mehr und mehr sprachliche Verbindungen zwischen dem russischen Staat, der russischen Geschichte und der russischen Gesellschaft mit dem Krieg, und die Menschen verstehen, dass es eine Einheit zwischen dem Z-Symbol und der Idee des russischen Staates und Sieges gibt. Das Z wird also auf dieselbe Weise genutzt wie das Hakenkreuz in Nazideutschland: als Symbol, um die Menschen daran zu erinnern, keine Kritik zu üben, dass der Staat geeint ist und dass es keinen Sinn hat, sich von ihm abzusetzen.
Kontraste: Wenn Sie sagen: Russland ist ein faschistischer Staat - bedeutet das, dass Sie Russland auf einer Stufe mit Hitlerdeutschland sehen?
Applebaum: Ich finde es wichtig zwischen verschiedenen Arten von Gesellschaften zu unterscheiden. Ich glaube nicht, dass alle Formen autoritärer Herrschaft gleich sind. Es kann aber sinnvoll sein, sie zu vergleichen, um sie besser zu verstehen. Es ist interessant, Putins Russland mit dem Sowjetkommunismus zu vergleichen. Ich erinnere daran, dass es in Putins Russland mehr politische Gefangene gibt als unter Breschnew in der Sowjetunion.
Es ist auch interessant, Putins Russland mit Hitlerdeutschland zu vergleichen. Wenn man Vergleiche macht, findet man Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Putin verwendet eindeutig Taktiken und Techniken aus Hitlerdeutschland - beispielsweise die Verwendung des Z anstelle der Hakenkreuze oder organisierte Marschgruppen im Fernsehen zu zeigen, um die Menschen zu überzeugen, dass die Gesellschaft zusammensteht. Er benutzt aber auch Taktiken aus der Sowjetzeit, um gegen jede Form der Zivilgesellschaft vorzugehen.
Anspruch auf totale Herrschaft
Kontraste: Ein Teil der russischen Propaganda sind Geschichtsfälschungen. Welche Rolle spielen sie?
Applebaum: Alternative Geschichte spielt eine enorme Rolle in der russischen Propaganda, wie sie das auch schon früher in der autoritären faschistischen und sowjetkommunistischen Propaganda getan hat. Die Idee ist, den Menschen ein falsches Gefühl für die Vergangenheit zu vermitteln, um sie zu kontrollieren. Das ist eine sehr alte Idee, die schon oft zuvor praktiziert wurde.
Putins Version davon ist seine Überzeugung, dass es ein natürliches russisches Imperium gab. Es umfasst den größten Teil dessen, was wir heute als Osteuropa betrachten, ebenso wie vielleicht einen Teil Deutschlands sowie einiger nicht-russischer und nicht-slawischer Gegenden. Putin geht davon aus, dass dies ein natürlicher Raum ist, den Russland weiter dominieren sollte. Gerade wegen dieser angeblichen Vergangenheit könne Russland diesen Raum auch in Zukunft dominieren. Diese Geschichte erzählt er den Russen, um seinen Anspruch auf totale Herrschaft und Kontrolle zu erklären.
Kontraste: Was bedeutet das für Verhandlungen mit Russland bezüglich des Ukraine-Krieges?
Applebaum: Angesichts der Natur des modernen Russlands, der Tatsache, dass es heute Elemente sowohl von faschistischer als auch sowjetkommunistischer Diktatur in sich trägt, wird jeder Versuch, diesen Krieg zu beenden erst dann beginnen, wenn Russland besiegt ist oder selbst das Gefühl hat, dass es den Krieg verloren hat oder verlieren könnte. Ich glaube nicht, dass der Krieg aufhören wird, bevor die Russen davon überzeugt sind, dass der Krieg verloren ist und sie imperialistisch sind und die faschistische Ideologie gescheitert ist.
Das Interview führten Daniel Donath und Silvio Duwe, rbb